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Babys nur 3 Monate stillen
GESELLSCHAFT | SCHLAGZEILE HINTERFRAGT (15.08.2005)
Von Astrid Weih
... ging als Credo eines ZDF Fernsehinterviews kürzlich durch die Medien und war infolge einer Mitteilung der dpa (Deutsche Presseagentur) bundesweit als Schlagzeile in den Zeitungen zu lesen.

So beispielsweise fettgedruckt auf der Titelseite der Thüringischen Landeszeitung. Eine Eigenart von Schlagzeilen dieser Art ist, dass sie sich auch dem Leser ins Unterbewusstsein brennen, dessen Blick die Titelseite nur flüchtig streift. "Man soll Babys doch nur drei Monate stillen", wird er oder sie bei Gelegenheit bemerken und auf die Frage warum "na das stand doch ganz groß in der Zeitung" zur Antwort geben.

Was ganz groß in der Zeitung stand und als Pressemitteilung kursierte waren nicht mehr als drei Sätze. Durch Herrn Dr. med. Kurt E. Müller wurde die Ansicht des Berufsverbandes der Umweltmediziner wiedergeben, dass Mütter ihre Kinder nur drei Monate stillen sollten, da Muttermilch viele Chemikalien enthalte. Wer dennoch länger stillen wolle, solle die Muttermilch zuvor auf Schadstoffe untersuchen lassen.

Dies wirft für den interessierten Leser einige Fragen auf: Was sind das denn für Chemikalien? Wie kommen die in die Muttermilch? Wie und wo kann man eine solche Untersuchung durchführen lassen? Bedeutet das Anraten einer Untersuchung, dass es auch schadstofffreie Muttermilch geben kann? Wie kommt man auf die Zeitspanne von drei Monaten?

Nachforschungen auf den Internetseiten des ZDF ergeben, dass Anlass der Äußerung des Berufsverbandes der Umweltmediziner, eine aktuelle Studie der Umweltorganisation Bund für Umwelt- und Naturschutz Deutschland (BUND) war. Die BUND-Studie umfasst 48 Seiten und stellt Forschungsergebnisse, aktuelle Entwicklungen und Schlussfolgerungen zum Thema Schadstoffe in der Muttermilch dar. Da Muttermilch ein guter Indikator für Umweltbelastungen ist, erstellte und veröffentlichte man die Studie als Grundlage für nachdrückliche Forderungen an die Änderung der Umweltpolitik. Es wird ausdrücklich nicht vom Stillen abgeraten.

Auch andere Experten leiten aus der neu veröffentlichten Studie nicht solch drastische Forderungen wie der Berufsverband der Umweltmediziner ab. Das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) spricht sich in seiner Stellungnahme mit dem Titel "Stillen ohne wenn und aber" für uneingeschränktes Stillen aus. Entsprechend äußern sich der Berufsverband Deutscher Laktationsberaterinnen IBCLC e. V. oder der Bund Deutscher Hebammen. Die aktuelle Stillempfehlung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) lautet weiterhin mindestens (!) 6 Monate voll zu stillen und danach bis zum 2. Lebensjahr oder länger beim Stillen zu bleiben.

Wie kommt also nun der Verbandsvorsitzende des Berufsverbandes der Umweltmediziner zu seiner bundesweit tausendfach zitierten Aussage und Empfehlung an junge und werdende Mütter, die Stilldauer auf 3 Monate zu beschränken?

Auf eine persönliche Anfrage per E-mail ist von ihm eine Stellungnahme zu seiner im ZDF-Interview ausgesprochenen Stillempfehlung zu bekommen. Darin führt er zunächst die Ergebnisse der BUND-Studie auf, um dann darauf hinzuweisen, dass Säuglinge Schadstoffe anders verstoffwechseln als Erwachsene was bei ihnen schneller dazu führen würde, dass kritische Schadstoffwerte erreicht würden. Weiter führt er aus, dass die Bewertung des Risikos von Schadstoffgemischen bisher gänzlich unzureichend sei und äußert den Verdacht, dass sich langes Stillen auf die Entwicklung der Hirnleistung auswirke. Er beruft sich auch auf die Erfahrungen, die er in der eigenen Arbeit mit atopisch erkrankten Kindern gesammelt hat, deren durchschnittliche Stilldauer bei 7 Monaten lag. Seine Kritik an den üblichen Stillempfehlungen geht dahin, dass die mit der Schadstoffbelastung der Muttermilch zusammenhängenden Risiken nicht ausreichend wissenschaftlich geklärt sind und die Schadstoffgehalte je nach Lebensweise und Umfeld der Frau sehr unterschiedlich sein können und es deshalb keine einheitlichen Stillempfehlungen geben sollte. Daher die Forderung des Herrn Müller im Namen des Berufsverbandes der Umweltmediziner:

"Aus Sicht des dbu muss eine differenzierte Stillempfehlung erfolgen, die die Besonderheiten des individuellen Belastungsprofils berücksichtigt. In den meisten Fällen dürfte eine Stillzeit von 3 Monaten unproblematisch sein. Dieser Zeitraum ist deshalb wichtig, weil bestimmte Defizite der immunologischen Leistung in dieser Lebensphase der Säuglinge nur durch Stillen ausgeglichen werden kann. Danach kann der Organismus der meisten Säuglinge solche Leistungen in zunehmendem Umfang selbst erbringen. Soll über diesen Zeitraum hinaus gestillt werden, bedarf es einer begründenden Analyse der Muttermilch, ebenso wie im Falle einer Verkürzung der Stillempfehlung. ... Stillempfehlungen müssen auf die einzelne Person bezogen und nicht schematisch ausgesprochen werden."

Die Stellungnahme erklärt wie es zu der Schlagzeile "Babys nur 3 Monate stillen" kommen konnte. Sie klärt, dass die 3 Monate gar nicht so pauschal gemeint sind, sondern eher der Minimumkompromiss bei einer mit Umweltgiften stark belasteten Frau. Wie daraus eine solch pauschale Schlagzeile werden konnte bleibt wohl ein Pressegeheimnis.

Unbeantwortet bleibt die an ihn gerichtete Frage, ob es nicht sinnvoller ist, stillenden Frauen Ernährungsempfehlungen und Informationen anzubieten, wie sie ihre eigene Schadstoffbelastung gering halten können, als eine Beschränkung der Stilldauer zu fordern.
Offen bleibt auch die Frage, wie und wo Untersuchungen der Muttermilch stattfinden.

Das um Auskunft gebetene Weimarer Gesundheitsamt verweist auf das Amt für Veterinär- und Lebensmittelüberwachung, dessen freundliche Mitarbeiter 3 Tage lang damit beschäftigt sind, regional ansässige Labore ausfindig zu machen, welche Muttermilchuntersuchungen vornehmen könnten. Ein Anruf bei einem der erkundeten Institutionen ruft Verwunderung hervor, denn nach so etwas habe noch nie jemand gefragt. Ein Chemiker äußerte trocken: "nun eine Kuh steht ja auch nicht gerade im luftleeren Raum". Dazu gleich.

Das Medizinische Labor Bremen (Haferwende 12, 28357 Bremen) nennt uns Herr Dr. Kurt E. Müller auf erneute Anfrage. Die Frage auf welche Schadstoffe das Labor die Milch denn untersuchen soll, wird überraschenderweise dem hilfesuchenden Anrufer gestellt. Nach einigem Hin- und Her ist in Erfahrung zu bringen, dass es eine "übliche" Untersuchung gibt, bei der auf Belastung mit den Schwermetallen Blei, Quecksilber und Cadmium, sowie auf Pestizide und polychlorierte Biphenyle hin untersucht werde. Man könnte natürlich auch auf mehr Substanzen untersuchen, dies wäre jedoch eine Frage des Preises. Genannte "Standartuntersuchung" schlägt mit 301 Euro zu Buche. Dazu ist über einen Arzt eine Milchprobe von 30ml einzureichen und man erhält innerhalb von 1 Woche eine qualifizierte Analyse. Um eine Kassenleistung handelt es sich natürlich nicht.

Die Recherche um an diese Informationen zu gelangen und damit einen der 3 Zeitungssätze mit Inhalt zu füllen benötigte mehr als 6 Wochen. Angesichts des Preises für die Untersuchung, die dann doch nicht mal alle der über 300 Schadstoffe umfasst, ist es fraglich, ob eine Forderung nach der Untersuchung der Muttermilch nach einer Stilldauer von 3 Monaten realistisch sein kann. Vielleicht sollte man dem medizinischen Dienst der Krankenkassen vorschlagen, dies als Kassenleistung zu gewähren?

Wahrscheinlicher ist, dass Frauen aus Angst, ihren Kindern zu schaden, ohne weitere Informationen einzuholen, die Stilldauer auf 3 Monate beschränken.

Die Frage drängt sich auf, wer ein Interesse daran haben könnte, das unter all den bekannten und diskutierten Fakten ausgerechnet diese Zeilen Verbreitung finden?

Die selbe Frage stellte sich vielleicht auch der ein oder andere im Jahre 1988, als in den Zeitungen die wissenschaftlich völlig unhaltbare Meldung kursierte: "Muttermilch verursacht Karies!"

Weiterführende Links
http://www.bfr.bund.de/cms5w/sixcms/detail.php/6434Stellungnahme des Bundesinstituts für Risikobewertung
http://www.lalecheliga.de/01-stellungnahme/stellung-4.htmStellungnahme des Berufsverbandes Deutscher Laktationsberaterinnen IBCLC e. V
http://www.lalecheliga.de/01-stellungnahme/stellung-5.htmPressemeldung des Bund Deutscher Hebammen Juni 2005
   



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