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Die europäische digitale Bürgerrechtsbewegung
POLITIK | NETZPOLITIK (22.06.2012)
Von Katharina Nocun
Seit den Protesten gegen ACTA wird viel von einer europäischen digitalen Bürgerrechtsbewegung gesprochen. Organisationen, die das Recht auf anonyme Kommunikation, Internetzugang und zensurfreies Netz fordern, existieren aber schon länger. Und in der Tat: Sie haben eine Bewegung in Gang gesetzt.

In ganz Europa gibt es zahlreiche NGOs, die sich gegen Überwachung einsetzen. Der europäische Dachverband EDRi (European Digital Rights Initiative) versucht, die Interessen seiner Mitglieder in Brüssel zu vertreten. EDRi finanziert sich über Spenden von Einzelpersonen und den Mitgliedsorganisationen und stellt ein Büro und ganze drei Mitarbeiter. Es ist vollkommen ersichtlich, dass das nicht gegen die Übermacht gut bezahlter und bestens ausgebildeter Lobbyisten ausreicht. EDRi macht gute Arbeit, müsste aber angesichts der vielen netzpolitischen Debatten auf EU-Ebene jedoch viel mehr Leute beschäftigen.
Die westeuropäischen NGOs sind mit einigen sehr engagierten Vertretern wie etwa La Quadrature du Net, was Lobbying und Professionalisierung angeht, besser aufgestellt. Trotzdem sind Themen wie Datenschutz, Netzneutralität und Vorratsdatenspeicherung dort nicht gerade ein Massenthema. "Die Krise überlagert gerade alles", sagte mir kürzlich eine italienische Aktivistin. Daneben bleibt nicht viel Raum für andere Themen. Vom Erfolg der ACTA-Proteste war man auch hier überrascht worden.
In Osteuropa existieren einige sehr erfolgreiche NGOs, die sich maßgeblich durch Fördergelder der EU und Stiftungen finanzieren und hauptamtliche Mitarbeiter beschäftigen. Doch eine breite Massenbewegung gab es dort vor den ACTA-Protesten nicht. Nicht zu diesem Thema und auch generell wenig. "Es ist in Polen einfach nicht so üblich, für etwas auf die Straße zu gehen", sagte eine polnische Aktivistin. "Aktivist und Petent sind in der Slowakei Schimpfworte", meinte ein anderer Aktivist aus Osteuropa. Mit einer solch negativen Grundhaltung zu ehrenamtlichem politischen Engagement ist es umso erstaunlicher, dass gerade im Osten die Proteste gegen ACTA mancher Orts zu wahren Masssenprotesten geführt haben. "Wir wissen nicht, was da passiert ist", sagt ein Tscheche. Der Verdacht liegt nahe, dass die Unzufriedenheit mit der politischen Situation, der von Korruption und Intransparenz stärker betroffenen Osteuropäischen Länder hier eine Rolle gespielt hat. Doch auf die Straße sind die Leute wegen ACTA gegangen. Die NGOs waren überrascht. Die Aktionen haben sich dezentral organisiert, unterstützt durch bereits existierende Strukturen.
Die deutsche Anti-Überwachungs- und Datenschutzszene genießt innerhalb der europäischen netzpolitschen Community den Ruf eines Sonderfalls. Wenn deutsche Vertreter von NGOs zu Vernetzungstreffen fahren, wird oft der Unterschied zwischen Deutschland und Europa angesprochen. Massendemonstrationen, Massenverfassungsbeschwerden, Massenpetitionen und Parteien, die sich mit Netzpolitikern schmücken und damit Wählerstimmen einsammeln - in Deutschland wird auf sehr hohem Niveau gejammert, teilte man mir mit. Denn Netzpolitik befindet sich hier längst auf dem Weg zum Mainstream.

Was uns trennt und was uns eint

Im direkten Vergleich fallen schnelle einige Unterschiede zwischen der Organisationsform der Big Player unter den Organisationen auf. Während im Ausland wenige kleine wendige Vereine die netzpolitische Debatte oft durch Lobbying und Ausschussarbeit bestimmen, sind es hier verstärkt Ansammlungen ehrenamtlicher Graswurzelbewegungen. Nicht jeder weiß, dass der Chaos Computer Club niemanden beschäftigt. Auch der AK Vorrat, der die jährliche "Freiheit statt Angst" ins Leben gerufen hat und jedes Jahr wieder trägt, bewältigt seine Arbeit ohne Hauptamtliche. Für Außenstehende ist das ein kleines Wunder. Für uns ist es Alltag. Dieses Wunder ist nicht selbstverständlich, sondern ist nur möglich, weil es ein tiefes Bedürfnis immer breiterer Bevölkerungsteile andockt, die uns bei der Arbeit unter die Arme greifen.
Dies zeigt, dass es in Deutschland in den vergangenen Jahren ein besonderes Bedürfnis gegeben hat, sich für Datenschutz, Meinungsfreiheit und informationelle Selbstbestimmung einzusetzen. Eine These ist hier, dass die Erfahrungen eines nationalsozialistischen Terror-Regimes die Bevölkerung besonders für Gefahren dieser Art sensibilisiert hat. Wir wissen nur zu gut, wie fragil eine Demokratie angesichts widriger Verhältnisse sein kann. Bedingungsloses Vertrauen in die Regierung fällt schwer, wenn man gelernt hat, zu was eine Post-Weimarer Demokratie außer Kontrolle im Stande war.
Eine andere These besagt, dass wir auf der pawlowschen Pyramide gerade ganz oben angekommen sind. Die Zahl der Internetnutzer steigt beständig. Das Internet hat die Gesellschaft und auch die Wirtschaft sehr stark durchdrungen. Vor allem die Junge Generation verlässt sich zunehmend auf die externe Festplatte Internet.
Welche dieser Thesen auch dominieren mag, ich halte beide für zutreffend. In Kombination schaffen sie jedoch anscheinend ein ideales Brutklima für das Übergreifen einer netzpolitischen Debatte auf breitere Bevölkerungsschichten.
Die ACTA-Proteste haben das Gleichgewicht verschoben. Innerhalb weniger Wochen hat die polnische Expertendebatte um ACTA die Gemüter der Bevölkerung entzündet. Sie haben Facebook-Gruppen gegründet. Die alteingesessenen Organisationen wussten oft nicht wie ihnen geschieht. Auch wenn die Demonstrationen von Organisationen angemeldet worden sind. Organisiert haben sich die Demonstranten selbst. In der Nachbetrachtung fällt auf, dass es zahlreiche "Koordinatoren" für diesen europaweiten Protest gibt. Jede Organisation macht ihre Telefonkonferenzen und berichtet von ihren Erfolgen.
Doch als ich auf der letzten Demo um mich blickte, sah ich lauter Menschen die ich nicht kannte, die keiner von uns kannte. Sie sind digital sozialisiert worden und drucken die Flyer für die Demo selbst aus. Die Mobilisierung nehmen sie uns aus der Hand und während wir noch an der Pressemitteiluing schreiben, haben sie schon längst auf ihrer Wall oder ihrem Blog dazu was geschrieben. Und ich glaube, die Leute die wir dort auf den Demos erleben, sind diese "digital natives", von denen wir ständig auf unseren Tagungen und Kongressen und Expertenrunden gesprochen haben. Die digitale Revolution braucht keine Führer. Sie ist dezentral.

Neue Soziale Bewegung und digital natives

Ich stelle hiermit eine These auf: Die netzpolitische Szene Deutschland hat den Status einer neuen Sozialen Bewegung erreicht. Inklusive Marsch durch die Institutionen durch engagierte Netzpolitiker und einer außerparlamentarischen Opposition, die ab und zu Webseiten hacken und deren Mitglieder von Innenpolitikern gerne auch als "Terroristen" bezeichnet werden. Wir haben die neuen "Grünen" in Gestalt der Piraten und wir haben ebenso die Tendenz, dass andere Parteien deren Kernthemen verstärkt aufgreifen. Das Internet mobilisiert die größte uns bekannte Wählerschicht. Themen wie "Internetsperren", "Vorratsdatenspeicherung" und "Urheberrecht" holen die politikverdrossenen wieder an die Wahlurnen zurück. Die Politik erkennt nun mit Schrecken: Nichtwähler waren niemals politikverdrossen. Sie waren lediglich der Politik verdrossen, die ihnen bisher angeboten worden ist.
Doch diese Entwicklung ist kein Selbstläufer. Sie funktioniert nur von allein, wenn weiterhin alle primären pawlowschen Bedürfnisse befriedigt bleiben. Wenn die Arbeitslosigkeit moderat und die Krise periphär bleibt. Und wenn nicht wieder mithilfe von Nazi- und Terroristenargumenten die Öffentliche Meinung gekidnappt wird. Die beiden Faktoren negative politische Vergangenheit und positive wirtschaftliche Zukunft sind maßgeblich für den Erfolg der Bewegung verantwortlich. Sie sind jedoch zugleich Punkte, an denen wir angreifbar sind.
Was also tun, wenn sich die Bedingungen ändern? Selbst dann haben wir als Netzbewegung starke Argumente um unsere Forderungen nach mehr Freiheit statt Kontrolle im Netz aufrichtig und kraftvoll vertreten zu können.

Wir dürfen niemals vergessen: Das Internet ist nicht das Problem sondern ein Lösungsansatz für viele gesellschaftlichen Missstände. Man kann soziale Probleme meist nicht mit technischen Mitteln lösen. Aber in einigen Fällen kann das Netz tatsächlich dazu beitragen, Ungerechtigkeit zu verringern und Teilhabe zu vergrößern. Die Gesellschaft kann davon profitieren, wenn der digital Divide beseitigt wird. Man muss es nur wollen.
Das Internet stellt zugleich aber stets gesellschaftliche Probleme bloß. Egal ob religiöser Fanatismus, politische Ideologien oder Gewalt gegen einzelne Gruppen. Das Internet hält uns den Spiegel vor. Transparenz erfordert auch das Eingeständnis unangenehmer Wahrheiten. Wenn Probleme thematisiert werden, die eine Zensur oder Überwachung des Netzes angeblich notwendig machen, lässt sich ein gemeinsamer Nenner schnell herauskristallisieren: Die Probleme sind zum Großteil in der analogen und nicht in der digitalen Welt verwurzelt. Es sind meist politische, soziale oder psychische Konflikte, die ohne das Internet ebenso ausgetragen werden würden. Nur eben dann ohne kritische Öffentlichkeit.
Das wahre Ausmaß der Vorteile der freien und unbeobachtete Echtzeit-Kommunikation für die Demokratie ist derzeit noch gar nicht absehbar. Das Netz ist eine echte Chance für die Demokratie. Eine Bereicherung für die Kultur der öffentlichen Debatte. Eine Zugewinn für den politischen Alltag der Bürgerinnen und Bürger.
Wer den Überbringer schlechter Nachrichten erschießt, handelt kurzsichtig und verkennt die Situation. Genau das beabsichtigen politische Schnellschüsse wie die Vorratsdatenspeicherung. Die Weichen für die Zukunft der Demokratie im digitalen Zeitalter werden jetzt gestellt. Ein guter Grund dafür zu sorgen, dass die "digital Rights" dabei nicht unter die Räder kommen.

Die Autorin arbeitet im AK Vorrat mit.
   





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