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In die NS-Rassenideologie verstrickt
GESELLSCHAFT | HINTERGRÜNDLICH (15.07.2007)
Von Michael Billig
An der Universität Münster fanden nach dem Zweiten Weltkrieg NS-Eugeniker eine neue Anstellung. Informationen über einen anderen, bislang unverdächtiger Wissenschaftler, nach dem sogar eine Straße benannt ist, lassen vermuten, dass sich hier ein Netzwerk gebildet hatte.

Bisher galt die medizinischen Fakultät in Münster unter dem Regime der Nationalsozialisten als unbedeutender Standort. Rassenkunde hielt zwar auch hier Einzug in den Lehrbetrieb. Doch im Bereich der Forschung standen die Universitäten in Heidelberg, Jena und Freiburg unter dem Hakenkreuz an vorderster Stelle. An der Westfälischen Wilhelms-Universität müsse aber nach dem Krieg eine Art Netzwerk von NS-Rassenhygienikern bestanden haben, vermutet der Medizinhistoriker Prof. Hans-Peter Kröner vom Institut für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin in Münster. Doch die Universitätsleitungen an der drittgrößten Hochschule Deutschlands haben sich in den vergangenen Jahrzehnten nicht um Aufklärung bemüht. Das ist ein Grund, warum der Wissenschaftler Karl Wilhelm Jötten bis vor kurzem in der westfälischen Provinzialhauptstadt einen ausschließlich guten Ruf genoss.

Michael Billig

Pseudo-Wissenschaft: In der Universitäts- und Landesbibliothek Münster ausleihbar: "Erbhygienische Untersuchungen an Hilfschulkindern" aus den Jahren 1933 bis 1945. (c) Michael Billig

"Erbhygienische" Untersuchungen an Kindern

Karl Wilhelm Jötten war von 1924 bis zu seinem Tod 1958 Direktor am Hygienischen Institut. Seine wissenschaftlichen Leistungen auf dem Gebiet der Gewerbehygiene haben ihm hohe Ehrungen eingebracht. Die Bundesregierung verlieh Jötten das Bundesverdienstkreuz, die Deutsche Akademie der Naturforscher die Cothenius-Medaille. „Dass er der eugenischen und rassenhygienischen Forschung an der Universität Münster bis 1945 wie kaum ein anderer Vorschub leistete, wird mithin gerne übersehen“, schreibt Jan Nikolas Dicke in seiner Examensarbeit (Weißensee-Verlag 2004), eine von wenigen kritischen und wissenschaftlich anspruchsvollen Auseinandersetzungen mit dem Nationalsozialismus an der Uni Münster. In der Öffentlichkeit war dieser Diskurs bislang weitgehend tabu.
Dabei lassen sich in den Magazinen der Universitätsbibliothek rund 20 Dissertationen über „Erbhygienische Untersuchungen an Hilfsschulkindern“ finden. Sie stammen aus der Zeit von 1933 bis 1939 und sind unter der Leitung von Karl Wilhelm Jötten sowie seines Assistenten Heinz Reploh entstanden. Prof. Hans-Peter Kröner räumt ein, dass sich die erst 1925 neu gegründete medizinische Fakultät damit unter den Nazis besonders hervor heben wollte. Doch mit Jötten hat sich auch er, der letzte verbliebene Medizinhistoriker an der Uni Münster, noch nicht auseinander gesetzt. Dabei sollte bekannt sein, dass der Staublungenforscher Jötten und sein Assistent Heinz Reploh an insgesamt 4 300 Kindern „erbhygienische Untersuchungen“ durchführen ließen. Die Betroffen im Alter zwischen sieben und 15 Jahre besuchten damals so genannte Hilfsschulen. Sie wurden gezählt, gewogen, vermessen und getestet. In einer Doktorarbeit lautete die grausame Empfehlung, „Schwachsinnige, Debile und sozial Minderwertige aus dem Fortpflanzungsprozess auszuschalten.“ Weiterhin ist von Eheverbot, Zwangssterilisation bis hin zur Ausmerzung die Rede.

Gesetz zur Zwangssterilisation

Geschichtswissenschaftler verweisen darauf, dass große Teile der Gesellschaft zur Zeit der Weimarer Republik eugenischen Bestrebungen gegenüber offen gewesen seien. Spätestens mit der Weltwirtschaftskrise sei der Sinn von der Förderung der schwächsten Glieder einer Gesellschaft in Frage gestellt worden – nicht nur im Deutschen Reich. Hingegen sollten erbgesunde Familien unterstützt werden, so auch eine Forderung aus kirchlichen Kreisen jener Jahre. Unter den Nationalsozialisten sei schließlich mit dem "Erbgesundheitsgesetz" ein Weg beschritten worden, der mit grauenhafter Notwendigkeit zielgerichtet in das "Euthanasie"-Massenmordprogramm geführt habe. Mit dieser Begründung stellten die Fraktionen CDU/CSU und SPD zuletzt im Dezember 2006 einen Antrag, um das „Gesetz zur Verhütung erbranken Nachwuchses“ durch den Bundestag ächten zu lassen. Jötten und seine Kollegen hatten durch ihre akademische Autorität dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ aus dem Jahr 1933 die Legitimation erteilt.
„Ich kenne keinen anderen Medizin-Professor, der mit Hilfsschulkindern ein so großes Forschungsvorhaben umgesetzt hatte“, sagt der Berliner Wissenschaftler Hans-Christian Harten. Er und zwei Kollegen haben ein umfangreiches Werk über „Rassenhygiene als Erziehungsideologie des Dritten Reichs“ publiziert (Akademie-Verlag 2006). Darüber, warum dieses dunkle Kapitel deutscher Hochschulgeschichte in Münster bis heute nicht aufgearbeitet worden ist, könne er nur spekulieren: „Kann sein, dass es unter dem Titel der Gewerbehygiene nicht auffällt.“ Über die Nachkriegszeit an der Westfälischen Wilhelms-Universität sagt Prof. Harten: „Wenn so jemand wie von Verschuer nicht hinterfragt wurde, fiel ein Jötten erst recht nicht auf.“ Otmar von Verschuer war zu Beginn der 1950er Jahre an die medizinische Fakultät nach Münster berufen worden. Dort besetzte er den Lehrstuhl für Humangenetik. 1938 war von Verschuer noch am erbbiologischen Institut der Universität Frankfurt a.M. Doktorvater von Josef Mengele, der als Arzt im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau Häftlinge für seine Experimente missbrauchte, gewesen. Während Mengele nie zur Verantwortung gezogen wurde, ging von Verschuer als „Mitläufer“ durch die Entnazifizierungsprozesse.

Netzwerk an der Uni Münster

„Verschuer war nicht der einzige NS-Rassenhygieniker, der nach dem Krieg hier eine Anstellung bekommen hat“, sagt Prof. Hans-Peter Kröner vom Institut für Geschichte, Ethik und Theorie der Medizin an der Uni Münster. Als eines von vielen weiteren Beispielen führt er Bruno K. Schultz, Leiter des Rassenamtes der SS, an. Die US-Historiker Sheila F. Weiss, die an einer Biografie über von Verschuer arbeitet, benennt auch noch Heinrich Schade, „ein unverbesserlicher Verfechter der NS-Ideologie“, der seinem Mentor nach Münster gefolgt sei. In einem Forschungsprojekt wolle Prof. Kröner diesen Teil der Geschichte aufdecken. Vieles spricht dafür, dass er bei seinen Untersuchungen auch auf Karl Wilhelm Jötten stoßen wird. Immerhin war Jötten im Jahr 1948 laut Weiss Dekan der Medizinischen Fakultät. Was ihn und seinen Assistenten Reploh bewogen hatte, sich unter den Nationalsozialisten zu profilieren, darüber gibt es keinen Aufschluss. „Wer nicht emigrierte, musste sich zwangsläufig die Hände schmutzig machen“, gibt Weiss zu bedenken. Weniger eine Verinnerlichung der NS-Rassenideologie als vielmehr Karrieregründe halte sie jedoch für wahrscheinlich. Die Universitätsleitung unter Prof. Ursula Nelles hat inzwischen zur Aufarbeitung der Universitätsgeschichte eine Expertenkommission ins Leben gerufen. Unter Leitung des Historikers Prof. Hans-Ulrich Thamer soll der Arbeitsschwerpunkt auf der NS- und Nachkriegszeit liegen. Wissenschaftlich haltbare Erkenntnisse seien auf die Schnelle jedoch nicht zu erwarten, kündigt Thamer an.
„Es wäre sicher wünschenswert, dass es zu den Dissertationen unter Jötten eine kritische Analyse gäbe. Damit Studenten, die auf diese Arbeiten zurückgreifen, sie entsprechend einordnen können“, bemerkt Prof. Hans-Christian Harten. Seinen Forschungen zufolge habe Jötten in einem Tagungsbeitrag von 1936 sehr deutlich ausgesprochen, dass 65 Prozent aller untersuchten Hilfsschüler sterilisiert werden müssten. Welche Konsequenzen die Aussagen Jöttens und die Arbeiten seiner Doktoranden für die betroffenen, jungen Menschen zur Folge hatten, ist über 70 Jahre später nur zu erahnen. Schätzungsweise 100 000 Hilfsschüler sollen zwischen 1933 und 1945 zwangssterilisiert worden sein, so Harten. Insgesamt seien im Nationalsozialismus 350.000 bis 360.000 Zwangssterilisationen an Menschen vorgenommen worden.

Weiterführende Links
http://www.uni-muenster.de/Rektorat/ns-kommission/stellungnahme.htmlStellungnahme der Kommission (Uni Münster) zum Fall Jötten (30.4.2008)
http://campus.uni-muenster.de/141.html?newsid=93Projekt mit DFG-Förderung: Medizinische Fakultät der WWU beginnt mit der Erforschung ihrer NS-Geschichte (11.2.2009)
   








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