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Es geht auch ohne Windeln
GESELLSCHAFT | ENTWICKLUNG IN DEUTSCHLAND (15.05.2005)
Von Astrid Weih
Kinderwagen, Nuckel, Windeln und Spielzeug sind in Deutschland nicht wegzudenken. Sie gelten als so essenziell, dass sie bereits vor der Geburt eines Kindes angeschafft werden. Bis Harz IV wurde ein Kinderwagen auf Antrag vom Sozialamt bezuschusst.

Heute kann man Finanzmittel von Stiftungen dafür bekommen. Nuckel, auch Schnuller oder Beruhigungssauger genannt, werden in allen möglichen Farben, verschiedenen Materialien und zukunftsweisenden Formen angeboten. Die Windelindustrie gehört zu den Branchen, die sich keine Sorgen um ihre wirtschaftlichen Perspektiven machen müssen. Für ein Kind braucht man fünf bis sieben Windeln pro Tag, was bei einer üblichen Tragedauer von anderhalb bis zwei Jahren einen Windelberg von durchschnittlich 4000 Windeln ergibt. Spielzeug besitzt ein deutsches Kind üblicherweise so viel, dass es leicht für eine ganze Kindergruppe reichen würde. Das ist bei uns normal.

Was in Deutschland unvorstellbar ist, ist in anderen Kulturen Alltag. Man kommt ohne Kinderwagen, Nuckel, Windeln oder Spielzeug zurecht. Wie ist das möglich?

In Ländern, in denen es keine Kinderwagen gibt, werden die Kinder getragen. Häufig gibt es dort ohnehin kaum beräderte Transporterleichterungen, so dass man an das Tragen von Lasten gewöhnt ist. Zum Kindertransport werden Tücher benutzt, mit denen sich Mutter, Vater oder Geschwisterkind das Baby an den Körper binden. In Gesellschaften, in denen es keine Nuckel gibt, werden die Kinder häufiger und länger als in unseren Breitengraden üblich und empfohlen gestillt. Daumenlutscher und entsprechende kieferorthopädische Probleme kennt man nicht. Dort, wo es keine Windeln gibt, werden Babys von Geburt an abgehalten. Sie drücken ihre Ausscheidungsbedürfnisse körpersprachlich aus und es gehört zu den normalen mütterlichen Kompetenzen, die Signale des Babys entsprechend zu deuten. Da, wo man kein Spielzeug kaufen kann, spielen die Kinder mit Hausratsgegenständen oder dem, was sie in der Natur finden.

Vermutlich funktionierte dies in Deutschland - zumindest in den unteren Schichten - einst genauso. Eingeleitet von der industriellen Revolution haben sich in jüngerer Vergangenheit andere Bräuche im Umgang mit Säuglingen manifestiert. Frühzeitiges Separieren der Kleinen soll die Entwicklung der Selbständigkeit fördern. Es existiert die Meinung, ein gerader Rücken komme vom geraden Liegen. Verbreitet ist auch die Ansicht, dass man ein Kind zu sehr verwöhnt, wenn man es herumträgt. Freiheit und Unabhängigkeit vom Kind sind wichtig geworden, um keinen "Knick" in der Karriere zu riskieren. Mit dem materiellen Reichtum haben neben Kinderwagen, Nuckel, Windeln und Spielzeug auch Kinderbettchen, Einschlaflampen, Wickelkommoden, Spieldecken und Säuglingsersatznahrung, Einzug in die Familien gehalten. Das gesamte Wesen der Säuglingspflege hat sich entsprechend der gesellschaftlichen Umbrüche in kürzester Zeit wesentlich verändert.

Vergleicht man unsere reich ausgestatteten Babys mit denen oben beschriebener materiell ärmerer Länder, fällt ein signifikanter Unterschied im Schreiverhalten der Säuglinge auf. Babys, die windelfrei und ohne Beruhigungssauger oder Spielzeug in ihrem ersten Lebensjahr am Körper ihrer Bezugspersonen getragen werden, weinen kaum oder gar nicht. Das deutsche Durchschnittskind bringt es dagegen zu Spitzenzeiten auf zwei bis drei Stunden tägliche Schreizeit. Ein bis zwei Stunden gelten als völlig normal. Sprengt die tägliche Weinzeit eines Kindes die Statistik, hat man ein sogenanntes Schreikind. Ein Phänomen, dass bei Kulturen, in denen die Kinder ständig getragen werden, gänzlich unbekannt ist. Hierzulande normal ist auch die sogenannte Trotzphase, die Eltern und Kindern gleichermaßen die Nerven raubt. Die Kinder der tragenden Völker lassen diese einfach aus und zeigen sich statt dessen deutlich früher bereit, gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen.

Ethnologen, Biologen, Psychologen und andere Naturwissenschaftler haben sich inzwischen intensiv mit diesen auffälligen Unterschieden befasst. Ihren Forschungen nach entspricht die in zivilisierten Nationen neu eingeführte Art des Umgangs mit dem Baby nicht mehr den elementaren natürlichen Bedürfnissen des menschlichen Säuglings. Die Babys reagieren verwirrt, weil Jahrtausende alte Erwartungen an Nähe, Körperkontakt sowie motorische und sinnliche Stimulation nicht ausreichend erfüllt werden. Kinderwagen, eigenes Bett oder eigenes Zimmer, schaffen eine Distanz zu den Betreuungspersonen, die Babys Angst macht. Ihre Urinstinkte suggerieren ihnen, verlassen und damit in Gefahr zu sein. Das Schreien soll den Missstand anzeigen und die Bezugspersonen dazu bewegen, die körperliche Nähe wieder herzustellen. Hat dies keinen Erfolg, ist Daumenlutschen die einzige Möglichkeit zur Selbstberuhigung.

Seit den 70er Jahren zählt man den menschlichen Säugling biologisch zu den Traglingen. Das heißt, seiner Natur nach gehört er, solange er sich noch nicht selbständig fortbewegen kann, an den Körper eines anderen Menschen. Dort empfängt er alle für seine Entwicklung wichtigen motorischen, visuellen und sinnlichen Reize. Die Perspektive aus dem Kinderwagen ist für den Säugling denkbar ungünstig. Die Welt erhebt sich über ihm, Dinge kommen und verschwinden, unvorhersehbar und außerhalb seiner Einflussmöglichkeiten. Ein getragenes Kind ist dagegen auf gleicher Augenhöhe mit der es umgebenden Umwelt. Es kann durch das Drehen des Kopfes entscheiden, wie lange es was sehen will und fühlt sich bei Erschöpfung geborgen genug, um einfach einzuschlafen. Ein Vorgang der beim Kinderwagenkind Mühe kostet und häufig nur mit Nuckel und Rütteln des Wagens erreicht wird. Manche Kinder schreien sich nur in den Schlaf, weil sie mit der Distanz zur Bezugsperson überfordert sind. Auf der anderen Seite ist das Baby im Kinderwagen visuell unterfordert. Um seiner daraus erwachsenden Unzufriedenheit Abhilfe zu schaffen, nutzt man buntes Spielzeug, welches in Reichweite des Kindes aufgehängt oder ihm in die Hand gegeben wird. Zu Hause auf der Spieldecke ist es ähnlich. Ein Tragetuchkind hingegen ist allein durch seine Position ständig beschäftigt. Es entdeckt ständig neue Farben und Formen. Es lernt Geräusche ihrer Ursache zuzuordnen und kommuniziert mit den Personen, denen es begegnet. Zu Hause verfolgt es gespannt die Erledigung der Hausarbeit und geht seiner Aufgabe nach, begreifen zu lernen, wie das Leben in seiner Familie funktioniert.

Während ein Kind auf der Spieldecke nur kurze Zeit allein spielt bis es beginnt, unkonzentriert und unausgeglichen zu werden, ist ein getragenes Kind auch über lange Zeiträume mit seiner passiven Rolle zufrieden und gibt sich seinen Beobachtungen hin. Ist es für die Mutter des ungetragenen Kindes oft schwer, sicher zu sein, ob ihr Kind mit seinem Unmut, das Bedürfnis nach Nähe, Hunger, Müdigkeit, Müssen oder Langeweile anzeigt, weiß die Mutter, die ihr Kind trägt, oft schon, was ihm fehlt, bevor es die entsprechenden Signale dazu aussendet. Ohne Windel spürt sie die gefüllte Blase oder den angespannten Bauch ganz einfach. Schmatzende Geräusche und Suchbewegungen, die Hunger signalisieren, kann sie auch im größten Trubel wahrnehmen. Weil sie dadurch in der Lage ist, direkt auf die Bedürfnisse des Kindes zu reagieren, muss es diese nicht lautstark anzeigen.

Die Zufriedenheit der Babys, die in tragender Weise in den Alltag integriert sind, ist also kein Zufall. Sie brauchen weder Spielzeuge noch Nuckel, um von ihren unerfüllten Erwartungen abgelenkt zu werden. Weniger ist in der Säuglingspflege mehr. In diesem Sinne kann Armut auch mal Segen sein.

Bleibt zu erwähnen, dass nicht alle Kulturen, die ihre Babys tragen, derart beispielhaft sind. Tragen ist nicht gleich Tragen und es gibt zuweilen große Unterschiede, was den sonstigen Umgang mit den Säuglingen betrifft. Um die Gegensätze darzustellen, ohne den Rahmen zu sprengen, wurde bewusst ein vereinfachtes Bild gewählt.

Wenig bekannt ist, dass auch hierzulande immer mehr Kinder getragen werden, dass man versucht, den Kindern weniger Spielzeug anzubieten, dass es Kinder gibt, die ohne Nuckel auskommen und vereinzelt sogar welche, die ohne Windel aufwachsen. Es gibt einen Trend zurück zur Natur, was sich auch in den Gedanken zum Umgang mit dem Baby niederschlägt.

Weiterführende Literatur:

Anja Manns / Anne Christine Schrader: "Ins Leben tragen"
Ashley Montagu: "Körperkontakt"
Evelin Kirkilionis : "Ein Baby will getragen sein"
Ingrid Bauer: "Es geht auch ohne Windeln"
Jean Liedloff: "Auf der Suche nach dem verlorenen Glück. Gegen die Zerstörung unserer Glücksfähigkeit in der frühen Kindheit"
Regina Hilsberg : "Körpergefühl"
   






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