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Wege zum deutschen Islam
GESELLSCHAFT | ZUR DEBATTE (11.01.2011)
Von Frank Fehlberg
Im Jahr 1896 forderte der Pfarrer Arthur Bonus die „Germanisierung des Christentums“. Der bis heute umstrittene Theologe definierte „Germanisierung“ eigenwillig: um der „Entkirchlichung“ großer Bevölkerungsteile entgegenzutreten, sei eine „deutschere Gestalt des Christentums“ nötig. In der Gegenwart muss sich der Islam ähnlichen Bemühungen stellen.

Der Diederichs-Verlag, bei dem schon Bonus seine Thesen zum Christentum kundtat, wirbt neuerdings für ein Buch des Imams Benjamin Idriz mit der programmatischen Ankündigung: „Der Islam – eine deutsche Religion“. Wie bei Idriz heute ist der Anspruch Bonus’ freilich eine Denkfigur seiner Zeit gewesen. Bei Bonus war sie geprägt von wachsenden Kirchenaustritten und dem Aufstieg materialistischer Weltanschauungen wie dem Darwinismus, dem Sozialismus und dem ökonomischen Liberalismus; nicht zuletzt geprägt von dem Verdacht, dass der deutsche Katholizismus nicht deutsch genug war. Die zentrale religiöse Frage der Zeit war für Bonus, wie das Christentum auf den rationalistischen Realismus und dessen selbstherrliche Anmaßungen reagieren sollte.
Dem heutigen Islam werden genau an dieser Stelle pauschal Vorwürfe gemacht. Er wäre radikal anti-modernistisch, geradezu „mittelalterlich“ und vor allem undemokratisch. In Deutschland geht das Gespenst der „Islamisierung“ um. Dass das Bekenntnis zu einer Religion nur ein Aspekt der Persönlichkeit ist und nicht jeder Religiöse allein auf seine Religion reduziert werden kann, ist in der Integrations-Debatte nach Thilo Sarrazin nahezu untergegangen. Statt negativ überall die „Islamisierung“ Deutschlands zu beklagen, machen sich einige, wie Benjamin Idriz, erfreulicherweise bereits an die Prägung eines deutschen Islam.

Einheit in der Vielfalt

Der Versuch einer Etablierung von islamischer Reformtheologie an den Universitäten und in den muslimischen Gemeinden erscheint als der einzig gangbare Weg aus der einseitigen „Germanisierung des Christentums“ von heute, der neuerlich vielfach beschworenen „jüdisch-christlichen Tradition“. Die Herausforderung der Islamintegration ist, auch aus staatspolitischer Perspektive, nicht das einigermaßen friedliche „Nebeneinanderherleben“, sondern – so schlicht wie nur scheinbar anachronistisch – die aktive religiös-soziale „Germanisierung“ des Islam.
Freilich hätte eine Verdeutschung des Islam nicht nur die religiöse Komponente zu berücksichtigen. Kulturelle Unterschiede zwischen verschiedenen Herkunftsländern treffen in Deutschland auf eine Gesellschaft, die so etwas wie eine staatsbürgerliche und gemeinschaftsbasierte Identität hervorgebracht hat und weiterhin hervorbringen muss. Eine Demokratie gesteht verschiedenste Freiheiten zu, sie kommt jedoch nicht ohne einen übergeordneten Sinn – einen „emotionalen“ Staatsgedanken – für ihre konstitutive Gemeinschaft aus. Dieser Sinn geht über den „Verfassungspatriotismus“ hinaus und beinhaltet neben der generalisierten humanistischen Ethik den individuellen Glauben aller Staatsbürger. Statt eines Multikulturalismus der Parallelgesellschaften muss eine Kultur der Einheit in der Vielfalt erreicht werden. Eine solche „Leitkultur“ kann nichts Statisches sein, sie ist zwangsläufig einer Veränderung und Entwicklung unterworfen, sie ist nicht verordnetes Sein, sondern gemeinsames Werden.

iley.de

Berliner Hinterhof: In der Merkez Camii-Moschee wird ein türkischer Islam gepredigt. Die Ditib (siehe Schild links) ist einer der muslimischen Verbände in Deutschland. (c) iley.de


Muslim und Staatsbürger

Neben der übergeordneten Perspektive eines europäischen Islam verfolgt etwa das von Benjamin Idriz geleitete Münchener Zentrum für Islam in Europa (ZIEM) einen reformislamischen Kurs, der auf die Verbindung von Islam und Deutschsein abzielt. Ein eigenständiger deutscher Islam muss nach den Zielvorgaben des ZIEM „fernab von traditionellen, nationalen, politischen, ideologischen und räumlichen Einflüssen eines aus anderen Regionen exportierten Religionsverständnisses eine gemäßigte und zeitgemäße islamische Lebenshaltung fördern“. Deutschland sei das Land, „an dem sich die neue Identität ausrichtet“, in dem man nicht nur das Grundgesetz achte, sondern dessen „gesellschaftliche Werte“ man sich „zueigen“ mache und in dem man sich „aktiv in der Gesellschaft“ einbringe.
Das Erlernen und die Anwendung der deutschen Sprache bei der Religionsausübung gehört zu den selbstverständlichen Forderungen des ZIEM. Die Islamreformer legen Wert darauf, von den „Einflussnahmen durch die einstigen Herkunftsländer vollkommen abgekoppelt“ zu sein. Eine muslimische und staatsbürgerliche Identität des Deutschseins ist der dringend notwendige Versuch einer Vergemeinschaftung, die religiöse und soziale Motivation zusammen fruchtbar für das gesamtgesellschaftliche Leben machen soll. Die konsequente Forderung des ZIEM: „Zwischen Muslimsein und Bürgersein darf kein Widerspruch bestehen!“

Deutsche Sprache des Islam

Das „Christlich-Jüdische“ sehen wohl heute auch viele alteingesessene Deutsche nicht als verbindendes Element ihrer Herkunft, ihres Daseins und ihres Handelns. Diese Traditionskonstruktion, so oft sie auch wiederholt wird, entspricht nicht der deutschen Realität im Hier und Jetzt. Die religiöse Grundlegung der Werte ist einem seit jeher verschwommen gefühlten Verbindungselement gewichen: der „deutschen Art“ als solcher. Deutsche erkennen einander an der Sprache und den Dialekten, auch mal am typischen Jammern über die „Gesamtsituation“, in der Wertschätzung von Ordnung und Planbarkeit, an der Sehnsucht nach behaglicher Gemütlichkeit – und vielleicht am schrulligen Verhalten im Urlaub. Wer solche Phänomene als belustigende Stereotype abtut, verkennt wichtige Ausdrücke von Einheit in der allzumenschlichen Vielfalt unseres Landes. Wer auf der anderen Seite dem tief verwurzelten Blutgedanken nachhängt, dem wird sich die deutsche Zukunft als der Untergang des Deutschtums darstellen. Wollen wir aber unser geschichtlich gewachsenes Deutschtum erhalten, so müssen wir es in anderen als in alt-völkischen Kategorien denken. Deutsches Muslimsein wäre damit möglich. Der erste Schritt hierzu ist in der gegenwärtigen Diskussion unumstritten: das Bekenntnis zur deutschen Sprache.
Sollen sich praktizierende zugewanderte Muslime in Deutschland tatsächlich integrieren, so müssen sich beide Parteien, die Migranten wie die Einheimischen, einander annähern. Die Devise lautet: die Deutschen verteufeln nicht „den Islam“ und die Zugewanderten zeigen die Bereitschaft, ihren Glauben auf eine europäische, ja eine deutsche Art und Weise zu leben. Was würde einen spezifisch deutschen Islam aber ausmachen? Die Sprache des islamischen Glaubens müsste die deutsche sein. Eine islamische Theologie in deutscher Sprache bringt Geistliche hervor, die ihrer Gemeinde den Gottglauben auf Deutsch verkünden.

Ein Islam deutscher Sprache müsste alsbald in den interreligiösen Dialog eintreten und diese Bereitschaft ebenso seinen Gläubigen vermitteln. Der deutsche Islam wüsste um seine Bruderschaft mit allen Muslimen der Welt, würde aber seinem gesellschaftlichen, demokratischen und staatspolitischen Grund und Boden die handlungsethische Priorität zugestehen. Ein deutscher Islam arbeitete an der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung mit und förderte nicht die Entstehung von so genannten Parallelgesellschaften. Schließlich: er wüchse in die deutsche Kultur und Gesellschaft hinein. Dass diese Träumereien nicht von heute auf morgen in Erfüllung gehen, ist klar. Dass diese Erfüllung, insbesondere in Bezug auf die kulturelle Integration, nicht allein von der Religiosität der Zugewanderten abhängt, ebenfalls. Ein Mensch vereint viele Identitäten in einer Person, jedoch hat die Ausrichtung seines religiösen Wesens an der staatsbürgerlichen Gemeinschaft für seine Integration in Deutschland, seine „Deutschwerdung“, eine herausragende Bedeutung.

Verhältnis zum Deutschsein

Oftmals machen türkischstämmige Deutsche in der Türkei die Erfahrung, was das „Deutsche“ in ihnen ausmacht. Das hat mit ihrem religiösen Bekenntnis in vielerlei Hinsicht nur bedingt zu tun: sie hadern eher mit fehlender persönlicher Freiheit, Planbarkeit, Ordnung, Verlässlichkeit oder auch mit der mangelnden Berechenbarkeit des verwaltenden Rechtsstaates. Hier müssen weitere Bemühungen zur Integration ansetzen: die Vermittlung des Deutschen als einer positiven Identität – auch für Zugewanderte. Spätestens an diesem Punkt merken wir, dass Integration aus gesamtpolitischer Perspektive in erster Linie Arbeit an den eigenen Identitäten ist. Erst wenn wir uns über eigene Probleme unseres deutschen Staatslebens klar werden und verständigen, können wir von anderen erwarten, sich in dieses zu integrieren. Ob voranschreitende Demontage des Sozialstaats, Niedriglohnsektor, Kampf der zu reinen „Marktteilnehmern“ herabgewürdigten Staatsbürger untereinander, Vereinzelung und Vereinsamung abgehängter „Verlierer“, wirklichkeitsfremder Finanzkapitalismus, Privatisierung öffentlicher Zuständigkeiten, angeblicher oder faktischer „Werteverfall“ – ein positiver Entwurf zur Ermöglichung einer gemeinsamen Zukunft anstatt einer rein negativen Kritik oder untergangsfreudigen Inkaufnahme des „Unvermeidlichen“ tut Not. Konstruktive Gesellschaftskritik dient zuletzt immer der Selbstfindung und vor allem Selbstwerdung. Wer sich über sich selbst und sein Wollen nicht einigermaßen klar ist, der kann auch das „Fremde“ nicht verarbeiten, es besteht die Gefahr, dass dieses letztlich als Sündenbock für die eigenen Unzulänglichkeiten und Fehler dient.
Wir brauchen ein neues Verständnis von Nation und der Rolle des Einzelnen in ihr – eine sehr alte und zugleich hoch aktuelle Herausforderung an die Deutschen, zu deren Bewältigung ein religiös-sozialer Islam mit tatkräftigen Muslimen beitragen muss.

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