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Historiker rollt 100 Jahre alten Fall wieder auf
KULTUR | WIE IM KRIMI (23.05.2011)
Von Michael Billig
Drei Verbrecher töten auf brutale Weise einen Polizisten. Rund 100 Jahre später rollt ein Nachfahre des Opfers den Fall wieder auf. Der Historiker Norbert Ellermann dokumentiert, was sich damals abspielte.

M. Billig

Historiker Norbert Ellermann hat den Mord an seinem Vorfahren, den Polizisten Wilhelm Ellermann (Foto im Hintergrund) wieder aufgerollt. (c) M. Billig

Der Mord an seinem Urgroßonkel beschäftigt Ellermann seit seiner Jugend. Er befeuerte seine Interesse für Geschichte. Die Recherche führt in das Jahr 1911 zurück:

Der junge Polizeisergeant Wilhelm Ellermann wacht über 3000 Seelen in der Gemeinde Herzebrock. Weite Flächen, die Ems und viele kleine Bäche prägen die Landschaft im heutigen Landkreis Gütersloh. Ein Drittel der Herzebrocker wohnt im Dorfkern, die meisten verteilen sich auf umliegende Gehöfte. Jeder kennt jeden. Eines Abends im November fallen in einer Gastwirtschaft drei dunkle Gestalten auf. Einer von ihnen ist der ortsbekannte Landstreicher Alex Stadtkowitz. An seiner Seite befinden sich sein Bruder Anton und ein gewisser Johann Wielich. Das Trio ist auf Beutezug. Ausgestattet mit Brecheisen und Revolvern machen sie die Gegend unsicher. Als sie die Wirtschaft verlassen, rufen die aufgeschreckten Gäste nach der Polizei. Ellermann ist der einzige Polizist weit und breit. Der gelernte Schneider hat drei Monate lang die Polizeischule besucht. Nach bestandener Abschlussprüfung bekam er die Stelle in seinem Heimatort und wurde zum Beamten auf Lebenszeit ernannt.

Verfolgungsjagd auf dem Dienstfahrrad

In blauer Uniform, mit Pickelhaube auf dem Kopf und Säbel am Gürtel eilt er auf seinem Dienstfahrrad herbei. Eine Schusswaffe sieht sein Dienstgrad nicht vor. Zu Pferde ist nur die Gendarmerie.
Als Ellermann in der Wirtschaft eintrifft, sind die Stadtkowitz-Brüder und ihr Kumpane verschwunden. Doch sie sind zu Fuß. Der Polizist nimmt umgehend die Verfolgung auf. Er tritt kräftig in die Pedale. Einige Einwohner Herzebrocks schließen sich ihm an, halten aber sicheren Abstand. Auf einer unbefestigten Straße zwischen Herzebrock und der Stadt Gütersloh holt Ellermann die drei Verdächtigen ein. Er erkennt den mehrfach vorbestraften Alex Stadtkowitz und steigt vom Rad. Er packt ihn an der Schulter. "Sie sind verhaftet", sagt Ellermann. Die beiden anderen fordert er im preußisch, strengen Befehlston auf: "Stehen bleiben!"

Die Polizei rekonstruiert das Verbrechen am Tatort.


Doch Alex Stadtkowitz reißt sich wieder los und will davonrennen. Da krachen zwei Schüsse. Der erste, abgefeuert von Johann Wielich, trifft den armen Ellermann in den Kopf. Der zweite geht daneben. Stadtkowitz stockt, dreht sich um und sieht den Polizisten zu Boden fallen. Er geht zurück und schlägt auf den niedergeschossenen Ellermann ein. Die Herzebrocker beobachten die brutale Tat aus der Ferne. Erst als sich die Verbrecherbande in eine Tanneschonung schlägt, trauen sie sich zu Ellermann heran. "Sie haben mich geschossen" lauten dessen letzte Worte, ehe er in Ohnmacht fällt. Eine Stunde später stirbt er im Krankenhaus an seinen Verletzungen.

Dank der Zeugen lässt sich der Tathergang auch heute, 100 Jahre später ziemlich genau rekonstruieren. Ihre Aussagen sind in die Archive eingegangen. Historiker Norbert Ellermann hat ein Foto geborgen, das zeigt, wie die Polizei damals vorging: Steine liegen auf der Straße. Sie markieren die Stellen, an denen der feige Mord begangen wurde. Hier des Polizisten Fahrrad, da ein Hut und dort die Eisenstange, mit der Stadtkowitz zuschlug. Ein Mensch liegt am Boden und spielt den toten Polizisten. Drei andere positionieren sich dort, wo die Verbrecher zuletzt standen.

Das Fahndungbild entstand 100 Jahre nach der Tat. (c) Niedersächsische Polizei

Die Zeugenaussagen geben detailliert darüber Auskunft, wie die Brüder Stadtkowitz ausgesehen haben. Historiker Ellermann lässt von ihnen Phantombilder anfertigen – als ob er sie wieder und wieder jagen wolle. "Ich will zeigen, wie genau die Polizei gearbeitet", sagt er hingegen.

Wissenschaft in der preußischen Polizei

Markant an Alex Stadtkowitz ist sein verkürzter linker Arm. Die Hand setzt schon am Ellenbogen an. Angeblich hat er sechs Finger. Außerdem ist er deutlich kleiner als sein Bruder Anton. Der fällt durch seine geduckte Haltung und hängende Schultern auf. Einzig Wielich, der dritte in dem verbrecherischen Bunde, bleibt ohne genaue Beschreibung.
Zeugenbefragung, Spurensicherung, die Suche nach Fingerabdrücken und der Einsatz von Spürhunden gehören zu den damaligen Ermittlungsmethoden. "Die Wissenschaft hält Einzug in die preußische Polizei", sagt Ellermann. Die Aufklärung des Falls bildet der Historiker als Glanzstück der Polizeiarbeit ab. "Preußen war anders als viele behaupten ein Rechtsstaat."
Fast zwei Wochen sind die Verbrecher auf der Flucht und verstecken sich in einer Höhle. Beim Versuch, sich mit Lebensmitteln einzudecken, gehen sie der Fahndungsmaschinerie ins Netz. Nach einer wilden Schießerei werden sie verhaftet.
Historiker Ellermann lässt von der Tat bis zur Festnahme nichts aus. Er berichtet auch von dem Prozess vor Gericht und der Hinrichtung der Stadtkowitz-Brüder. Es ist eine späte Rache an den Mördern. Sie sterben durch die Axt des Henkers. Ellermann ließ sie durch eine Ausstellung im Stadtmuseum Gütersloh noch einmal richten. Die Schau war bis Mitte Mai zu sehen.

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