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Den Kopf im Himmel, die Füße auf der Erde
GESELLSCHAFT | WEG AUS DER SUCHT (15.05.2008)
Von Uwe Heimowski
Neulich war ich zu Gast in einer Selbsthilfegruppe für Alkoholiker. Dort wurden Jubiläen geehrt. Eine Blume für 15 Jahre Abstinenz, eine dem, der es ein Jahr geschafft hat. Ich konnte mich anschließen: "Ich bin seit 21 Jahren trocken. Davor war ich spielsüchtig, trank und nahm regelmäßig Drogen."

Eigentlich bin ich mit einer starken Abneigung gegen Alkohol aufgewachsen. Mein Vater war Alkoholiker, meine Schwester ebenso, mein Bruder vorbestraft - alle Straftaten waren im "Suff" passiert. So wollte ich nicht werden, niemals. Doch dann kam das Sommerfest nach meiner Konfirmation. Ich sei jetzt erwachsen, hieß es, und wurde genötigt mitzutrinken. Apfelkorn. Ich war sehr schüchtern, geradezu verklemmt. Der Alkohol veränderte mich: fröhlich, lustig, forsch. So wollte ich sein. Also trank ich bei nächster Gelegenheit wieder, und wieder, und wieder. Ohne zu merken, dass ich vielleicht ein Problem haben könnte, gingen mehrere Jahre ins Land, in denen ich drei- bis viermal in der Woche stock betrunken war. Bald begann ich Haschisch zu rauchen. Folgen blieben nicht aus: die 7. und 9. Klasse musste ich wiederholen, mit der 10. Klasse flog ich von der Schule. Dazu kam Ärger mit meiner Freundin, und - natürlich - zu Hause.

Mitten in dieser Krise traf ich eine Klassenkameradin wieder. Früher hatte ich sie immer ausgelacht, weil sie einen roten Sticker trug: "Jesus lebt". Doch sie fragte einfach, wie es mir geht, ohne lange nachtragend zu sein, und alles brach aus mir heraus. Es tat so gut, mich einmal auszusprechen. Tanja lud mich in einen Jugendkreis ein. Ich ging mit, fühlte mich wohl, und mein Leben veränderte sich. Ich begann eine Ausbildung zum Erzieher, hörte auf zu trinken - und Tanja und ich wurden ein Paar. Alles schien wie verwandelt, irgendwie schien der Gott, an den diese Leute glaubten, tatsächlich zu wirken.

Doch dann kam der Absturz: Tanja machte Schluss. Ich ertrug es nicht. Die Kontakte zu Christen brach ich ab und verkroch mich in meiner Bude. Trinken und Kiffen wollte ich nicht. "Wegen eines Mädchens?" - dafür war ich zu stolz. Durch Zufall geriet ich in eine Spielhalle. Ich warf Geld in den Automat - und erlebte das gleiche wie damals mit dem Apfelkorn: es zog mich in den Bann und verwandelte mich. Mein Frust war wie weggeblasen, ich war nur noch auf die Maschine fixiert. Schon nach ein paar Tagen konnte ich es nicht mehr stoppen. 16 Stunden spielte ich pro Tag, alles Geld, was ich irgendwo auftreiben konnte, wanderte in die Automaten. Blieb ich zu Hause, stellten sich Schweißausbrüche und Panikattacken ein. Bald trank ich auch wieder, nahm Drogen, und rauchte wie ein Schlot: sechs Schachteln am Tag. Nach zwei Jahren war ich am Ende, körperlich ein Wrack, aus der Erzieherfachschule geflogen, total verschuldet.

"Und wie hast du es trotzdem geschafft, seit 21 Jahren trocken zu sein?" will ein ungeduldiger Zuhörer aus der Gruppe wissen. Ich habe eine Giraffe mitgebracht, die stelle ich jetzt aufs Rednerpult. "So wie diese Giraffe: den Kopf im Himmel, die Füße auf der Erde." Der Himmel: An einem Abend kam ich von der Spielhalle nach Hause, total betrunken, mein ganzes Geld verspielt. Die Verzweiflung schlug über mir zusammen. Ich wollte nicht mehr leben. Doch plötzlich schoss mir durch den Kopf: Wenn die Christen Recht haben, dann stehst du vor Gott und musst all das verantworten, was du angestellt hast. Ich kniete, besoffen wie ich war, vor meinem Bett nieder und stammelte ein Gebet: "Gott, wenn es dich wirklich gibt, dann hilf mir, du bist meine letzte Chance." So schlief ich ein.

Am nächsten Tag besuchte mich ein Freund aus dem Jugendkreis, der den Kontakt zu mir aufrecht erhalten hatte, mit einer Bekannten, die in einer christlichen Therapieeinrichtung arbeitete. Sie kannten mein Problem und erklärten mir, wie ich mich dort bewerben könnte. Ich wusste sofort: die beiden sind die Erhörung meines Gebetes. Ich erzählte es ihnen. Sie waren total begeistert und erzählten mir von einem Seelsorger, bei dem ich eine "Lebensübergabe", wie sie es nannten, machen könnte. Ich besuchte den Mann. Er erklärte mir das Evangelium: Dass Gott jeden Mensch liebt, aber dass wir durch unsere Sünde von Gott getrennt sind. Jesus Christus hat diese Sünde am Kreuz getragen. Wer nun seine Sünde bekennt, und Jesus sein Leben anvertraut, der wird frei. Das wollte ich. Claus, so hieß der Mann gab mir einen Zettel. Anhand dieser Fragen sollte ich alles notieren, was ich Gott als Schuld bekennen müsste. Nach ein paar Tagen trafen wir uns wieder. Ich zählte konsequent alles auf - auch wenn mir vieles sehr peinlich war. Dann betete Claus für mich, und ich fuhr nach Hause. Das Wunder geschah tatsächlich: seit diesem Tag habe ich nie wieder Drogen genommen oder an Glücksspielautomaten gesessen, nur beim Alkohol gab es einige wenige Rückfälle.
Die Füße auf der Erde: trotz des Wunders merkte ich schnell, dass mein Leben im Ganzen eine Wende brauchte. Es war ein Scherbenhaufen. So bewarb ich mich für einen Therapieplatz. Nach fünf langen Monaten Wartezeit, begann ich eine Langzeittherapie in Hessen. 11 Monate, und zwei Jahre Nachsorge, in denen ich meine Erzieherausbildung fertig machte. Danach Zivildienst im Missionsteam der Heilsarmee in Hamburg, anschließend Theologiestudium. Es gab so vieles zu tun und zu lernen, so viele kleine und große Erfolge, aber auch Rückschläge. Doch in all dem blieb Gott treu an meiner Seite und ich konnte meinen Weg gehen. 21 Jahre trocken, und keinen Tag davon möchte ich missen.

privat

(c) privat

Autor Uwe Heimowski hat ein Buch geschrieben: "Spielsucht - mein Weg aus der Abhängigkeit" (2004).

Weiterführende Links
http://www.heimowski.net/Internetseite von Autor Uwe Heimowski
   




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