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Leben bedeutet, unterwegs zu sein
REISE | UNTER SECHS AUGEN (15.02.2006)
Von Michael Billig
Am 16. März beginnt in Münster die Wanderung der Brüder Magnus (30) und Ruben Enxing (36). Ihre Füße sollen sie bis nach Jerusalem tragen. Wir hatten die Gelegenheit, ihnen ein paar Fragen dazu zu stellen.

iley: Ihr werdet in den nächsten sechs Monaten zu Fuß nach Israel gehen. Habt wirklich nichts Besseres zu tun?

Magnus: Nein, also für die Zeit haben wir nichts Besseres vor. Wir haben uns schon gedacht, sie bewusst anders zu nutzen. Als Ruben mich mit dieser Idee konfrontiert hat, da war für mich in etwa klar, dass ich für diese Zeit schon mit dem Studium fertig bin. Und dass ich nicht sofort einen Job finde, war auch relativ klar. Irgendwann hat sich herauskristallisiert, dass der Beginn der Reise auf das Frühjahr 2006 fallen wird. Bis jetzt habe ich die Zeit mit Praktika angefüllt. Und für danach nehme ich mir nun die sechs Monate und sammle Erfahrungen auf anderem Gebiet.

iley: Ruben, von Dir kam also die Idee...

Ruben: Ich bin vor neun Jahren schon einmal Pilgern gewesen nach Santiago de Compostela. Auf die Frage, ob ich es wieder machen würde, sagte ich, wenn, dann nicht allein und wenn dann gehe ich nach Jerusalem.
Um auf die Anfangsfrage noch einmal zu kommen, nein, ich habe nichts Besseres zu tun. Denn gibt's im Grunde Besseres, als intensiv zu leben und da zu sein, wo ich bin? Ich lebe so ein bisschen nach der Philosophie, Geld lässt sich irgendwann wieder beschaffen, aber Zeit ist unwiederbringlich weg. Wir haben einen Onkel, der ärgert sich, dass er so etwas in seiner Jugend nicht gemacht hat. Jetzt mit 70 hat er zwar das Geld und auch die Zeit, aber er kann nicht mehr.

iley: Warum muss die Reise ausgerechnet zu Fuß sein? Warum nicht mit dem Fahrrad, dem Auto oder dem Flugzeug?

Magnus: Weil man sonst viel zu schnell da ist und vom Weg nichts mitbekommt. Dann hat man keine intensiven Begegnungen, man kann nicht nachvollziehen, wie sich kulturelle Unterschiede einstellen, ja, wie unterschiedlich die Menschen sind, die man treffen könnte. Deshalb haben wir das Fortbewegungsmittel zu Fuß gewählt, dass wir die Zeit für so etwas haben.
Ruben: Auf die Frage sage ich immer, weil ich kein Fahrrad reparieren kann. Auf dem Weg nach Santiago habe ich jemanden getroffen, der mit dem Fahrrad unterwegs gewesen ist. Zu Fuß habe ich ihn dreimal eingeholt. Das lag daran, weil sein Fahrrad ständig kaputt war.

iley: Einen Muskelfaseriss kann man auch nicht so leicht "reparieren". Ihr werdet 5 000 Kilometer laufen. Fühlt Ihr Euch fit für die Tour?

Magnus: Wir bereiten uns gezielt darauf vor: Rückengymnastik, probeweise mit Gepäck Wandern. Ruben geht auch ins Fitnessstudio. Ausdauertraining, Joggen. Ja, so die Sachen, die man halt machen kann. Alles andere trainiert sich, wenn man Tag für Tag unterwegs ist. Anders kann der Körper nicht auf diese Belastung eingestellt werden.

iley: Was bedeutet es für Euch, zu pilgern?

Ruben: Bei mir hat das mit meinem Glauben zu tun. Ich bin immer auf der Suche und deswegen bin ich auch gern unterwegs. Es gab einige Situationen auf dem Weg nach Santiago, wo ich so eine Ahnung hatte, dass ich gar nicht allein unterwegs bin, wo ich das Gefühl hatte, ich werde von jemand anderem getragen. Das hatte für mich etwas von Gottesnähe, mit Gott Unterwegssein.
Magnus: Für mich ist persönlicher Glaube gelebte Nächstenliebe. Das ist für mich eine der bedeutendsten Aussagen der christlichen Religion. Nächstenliebe bedeutet den Anderen zu akzeptieren, wie er ist und Verständnis für den Anderen aufzubringen. Und ich erhoffe mir, dass ich das erreiche durch Begegnungen mit vielen Menschen von unterwegs.
Das Unterwegssein ist das Leben. Leben bedeutet, unterwegs zu sein und nicht möglichst schnell irgendwo anzukommen. Wir haben ein geographisches Ziel, aber unser Wandern geht weit darüber hinaus.

iley: Macht Ihr diese Erfahrungen nicht im Alltag oder Zuhause?

Ruben: Ich finde, der Alltag verschüttet oft so existenzielle Lebenserfahrung, zum Beispiel mit was und mit wie wenig ich auskommen kann. Das verschüttet unter so alltäglichen Dingen wie zur Arbeit gehen, Versicherungen haben. Manchmal habe ich so das Gefühl, es passiert überhaupt nichts. Es ist alles so abgesichert und das ist es jetzt.
Magnus: Auf Reisen lernt man einfach Dinge ganz anders zu schätzen, als wenn man Zuhause bleibt und sich mehr oder weniger den ganzen Luxus weiterhin verschreibt. Ich will nicht sagen, dass man keine eigene Wohnung mehr haben darf, überhaupt nicht, aber ab und an die Erfahrung für wesentliche Dinge ins Zentrum zu rücken, ist auch ganz heilsam, wenn man unterwegs ist und wieder weiß, wie lecker eine Schnitte Brot sein kann.

iley: Das genaue geographische Ziel Euerer Reise ist Neve Shalom / Wahat al Salam, ein Dorf südlich von Jerusalem. Warum habt Ihr diesen Ort auserkoren?

Ruben: Das Besondere ist, dass dort Israelis und Palästinenser zusammen leben und gemeinsam eine Schule gegründet haben, wo die Kinder lernen, nebeneinander und nicht gegeneinander zu leben. Dort wird Frieden gelehrt.
Ich fand die Verbindung ganz schön von unserem Unterwegssein in vielen kleinen Schritten, so wie auch die Friedenschule viele kleine Schritte geht zur Verständigung zwischen Israelis und Palästinensern.
Magnus: Wir wollten unsere Wanderung nicht nur zum Selbstzweck unternehmen. Deswegen haben wir uns überlegt, wie können wir es verknüpfen, dass es einem Ideal gerecht wird. Wir sind nun einmal Idealisten. Und das Projekt erschien uns unterstützenswert. Wir hatten mehrere zur Wahl, aber dieses ragte hervor, weil es das Übel an der Wurzel packt und nicht erst, wenn es schon zu spät ist.
Die Friedensschule hat einen einigermaßen hohen Durchlauf von jungen Leuten und diese sind die Ideenträgern für das Miteinander, für die offene Begegnung der unterschiedlichen Menschen. Wir hoffen, dass die Idee sich verbreitet und deshalb unterstützen wir dieses Projekt durch unser Unterwegssein an sich, wobei wir unterschiedliche Menschen treffen werden, und wir sammeln konkret Spenden, vornehmlich in Deutschland. Damit die Arbeit in der Friedensschule weiter gehen kann.

iley: Apropos Frieden. Ariel Scharon ist aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr Regierungschef Israels. Die Hamas hat die Wahlen in Palästina gewonnen. Was muss Euerer Meinung nach jetzt geschehen, dass es Frieden zwischen Israelis und Palästinensern gibt?

Ruben: Ich glaube, dass Neve Shalom / Wahat al Salam genau die Lösung darstellt. Das tägliche miteinander leben ist ein Ansatz. Wenn ich die Positionen des Anderen kennen lerne, dann ist er nicht mehr der böse Fremde, der mir was will, sondern dann kann ich vielleicht das Anderssein akzeptieren. Für die großen politischen Fragen habe ich keine Antwort.
Ich habe einiges gelesen, auch über die Jerusalem-Frage. Je mehr ich gelesen habe, muss ich ehrlich sagen, desto weniger habe ich verstanden.
Magnus: Das einfache, aber dennoch beeindruckende Konzept der Friedensschule ist, den Gegenüber erst mal als Menschen wahrzunehmen und nicht nur als Teil einer Gruppe oder einer Nationalität.

iley: Denken wir an den Streit um die Mohammed-Karikaturen und die damit verbundenen gewaltsamen Proteste oder an den Wahlsieg der Hamas. Beeinflussen diese Ereignisse Euere Reise-Vorbereitungen?

Magnus: Unterschwellig.
Ruben: Nein.
Magnus: Ich hatte noch keinen Moment daran gedacht, das Projekt deswegen sausen zu lassen. Ich glaube sogar, dass der Sieg der Hamas mittelfristig für die Region gut ist. Denn wenn so eine extreme Partei in der Regierungsverantwortung steht, muss sie ein bisschen anders Politik betreiben. Wir müssen einfach sehen, wie die Gegebenheiten vor Ort sind.
Ruben: Mich beeinflussen sie deswegen nicht, weil ich ja auch weiß, dass es seit Jahrhunderten Kriege und Konflikte im Nahen Osten gibt. Zu warten, bis es da mal ruhig wird, macht keinen Sinn. Es ist ja eher so, dass wir zu einem Dialog beitragen wollen.

iley: Wisst Ihr schon, wie Ihr wieder zurückkommt?

Ruben: Da sind wir etwas unterschiedlicher Auffassung. Ich möchte, wenn es irgendwie geht, mit Schiff und Zug zurück. Mit dem Flugzeug geht es mir einfach zu schnell.
Magnus: Ich bewerbe mich für Oktober schon auf Stellen. Da weiß ich jetzt noch nicht, ob das was wird. Aber ansonsten kann ich das sehr gut nachvollziehen, dass es mit dem Flugzeug einfach zu schnell geht.

iley: Ruben, weißt Du schon, wie es anschließend bei Dir weitergehen wird?

Ruben: Zurzeit arbeite ich beim Weltladen-Dachverband. Wenn ich zurückkomme, werde ich da erst mal wieder anklopfen.

iley: Wir bedanken uns für das Gespräch und wünschen eine gute Reise!

Weiterführende Links
http://www.schritt-weise.netDie Reise der Brüder Enxing im Netz dokumentiert
   







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