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Einem Kürbis entsprungen
KULTUR | SCHÖPFUNGSGESCHICHTE (23.12.2009)
Von Andrea Schopohl
In der Schöpfungsgeschichte der Khmu - ein Volk im Hochland von Laos - krabbeln die ersten Menschen aus einem Kürbis. Sie kommen durch ein Loch, das ihre mythische Mutter mit einem feurigem Eisen in die Frucht gebrannt hat.

Schopohl

Ein Haufen Kürbisse - bei den Khmu in Laos haben sie eine mythologische Bedeutung. (c) Schopohl

Mythen umgibt ein Schleier des Geheimnisvollen, Ursprünglichen. Tatsächlich geht es in Mythen um den Ursprung der Menschheit, die Entstehung der Welt, der Götter und Geister. Mythen erklären, warum die Welt so ist, wie sie ist. Schriftlich fixiert wirken sie häufig übernatürlich und großartig, allerdings auch immer etwas verstaubt und wie aus einer anderen zeitlichen Dimension.

Interpretation der Vergangenheit aus der Gegenwart heraus

In der Erzählkultur der Khmu tragen Mythen die persönliche Note des Sprechers, eine Re-Interpretation der Vergangenheit aus der Gegenwart heraus, sie sind höchst aktuell. Die oftmals beschworene Autorität des Mythos als höhere Wahrheit verhält sich im Falle der Khmu und den kulturell nahestehenden Rmeet relational zu den Lebenserfahrungen und Interpretationen des Erzählers. Da es nicht nur eine Wahrheit gibt, sondern eine Vielzahl parallel existierender Lebensgeschichten und Erfahrungshorizonte, gibt es auch ebenso viele Versionen ein und desselben Mythos.
Ethnien wie die Khmu oder Rmeet besitzen keine eigene Schrift, dafür die Freiheit der individuellen Erzählung, und zwar in einem weitaus größeren Maße als sogenannte Schriftkulturen.

Beliebte Legende

In Laos gibt es eine beliebte Legende, dessen Erzählung im Zuge der Globalisierung und der sich dadurch verdichtenden interkulturellen Kontakte immer differenzierter werden dürfte: die Geschichte vom mythischen Kürbis. Die Erzählung ist auch in anderen Gesellschaften Festland Südostasiens zu finden, so auch bei den Rmeet und unterschiedlichen Ethnien Vietnams und Thailands. Die entscheidenden Unterschiede der Erzählvarianten dieses Entstehungsmythos liegen in der ethnischen Zugehörigkeit des mythischen Geschwisterpaares als Ursprung der gesamten Menschheit und in der Abfolge, in der die von ihnen abstammenden Gesellschaften in der Welt erscheinen. In den folgenden Abschnitten werde ich nicht den gesamten Mythos, sondern lediglich einige stark verkürzte Passagen wiedergeben:

Eine große Flut hatte die gesamte Menschheit hinfort gespült, nur ein Geschwisterpaar hatte sich retten können, und da beide die einzigen Überlebenden darstellten, waren sie gezwungen sich zusammen zu tun, um die Welt erneut zu bevölkern. Nach einiger Zeit gebar die Frau einen Kürbis, aus dem nacheinander verschiedene Ethnien schlüpften: zunächst erschienen die Khmu, dann die Rmeet, die Lao und schließlich die Thais, Vietnamesen, Franzosen, Japaner, Amerikaner, Deutsche, …

Entstehungsmythen sind in der Regel ethnozentristisch, die Erzähler selbst sehen sich als Ursprung der gesamten Menschheit. Die Selbstbezeichnung ethnischer Gruppen bedeutet häufig schlicht und einfach "Mensch", so wird auch das Ethnonym "Khmu" oft mit "Mensch" übersetzt. Dementsprechend war auch das Ur-Geschwisterpaar Khmu und seine direkten Nachkommen waren die ersten, die aus dem Kürbis in die Welt hinaus traten.
Die Rmeet erzählen den Mythos anders. In ihrer Variante war das mythische Geschwisterpaar Rmeet und es waren sie, die als erstes aus dem Kürbis kletterten. Offensichtlich ist es der Standpunkt des Erzählers, der ausschlaggebend für die Erzählstruktur einer Geschichte ist und nicht eine übergeordnete absolute Wahrheit.
Die Mythen der Khmu und Rmeet sind flexibel und wandelbar. Sinn und Wahrheit ergeben sich aus dem Gesamtzusammenhang persönlicher Biographien und Lebenserfahrungen.

Baum des unermesslichen Reichtums

Anhand der Geschichte vom "Baum des unermesslichen Reichtums" lassen sich Aspekte der persönlichen Lebenswege unterschiedlicher Personen rekonstruieren: Als die Rmeet den Baum des unermesslichen Reichtums fällen, fällt seine mit Geld- und Luxusgütern bewachsene Krone in das von den Lao bevölkerte Tiefland. Der Mythos begründet somit die materielle Überlegenheit der Tiefland-Lao gegenüber den Rmeet. In der Version eines im Nachbarland Thailand arbeitenden Rmeet fällt die Baumkrone ins relativ reiche Thailand und in der Version eines 70-jährigen Mannes, der während des Zweiten Indochinakrieges in der Königlichen Laotischen Armee gekämpft hatte, nimmt Frankreich den Status einer reichen Nation ein. Der Mythos spiegelt somit die Begegnungen mit unterschiedlichen Kategorien materiell bevorteilter "Fremder" wieder und lässt so auf den Erfahrungshorizont seines Erzählers schließen.

Zurück zum Kürbismythos: Bemerkenswert ist die chronologische Reihenfolge, in der die einzelnen ethnischen Gruppen aus dem Kürbis krabbeln. Diese stimmt in etwa mit den geschichtlichen Erfahrungen der Region des heutigen Laos überein. Da die Rmeet den Khmu kulturell am nächsten stehen, ist es nur naheliegend, dass sie in einer Khmu-Variante des Mythos gleich nach den Khmu aus dem Kürbis kriechen, ist der Sprecher jedoch Rmeet, ändert sich die Reihenfolge entsprechend. Auch das Auftreten der französischen, japanischen und amerikanischen Besatzer wird im Mythos thematisiert, einschließlich die von ihnen mitgebrachten Kulturgüter (Flugzeuge, Radios und andere elektronische Geräte) und Luxusartikel.

Zum Verhältnis Khmu und Tiefland-Laoten

Als wichtigster ökonomischer und kultureller Austauschpartner brachten die Tiefland-Lao den Khmu die Schrift, die diese jedoch bald aufgrund ihrer eigenen Gutmütigkeit wieder verloren. So passte der Protagonist des Mythos einen Moment nicht auf, weil er einem Freund aus einer schwierigen Situation half, und verlor sogleich das von den Lao getauschte Buch, mit dessen Hilfe die Khmu wissenswerte Dinge wie Schreiben und Lesen erlernt hatten. Die intellektuelle Überlegenheit der Lao, ihre Listigkeit und Motivation, stets das Beste für sich selbst zu ergattern, wird auch in anderen Kontexten häufig von den Khmu betont. Diese haben dem höheren geistigen Niveau jedoch ein höheres soziales Potenzial entgegen zu setzen, wie im Mythos deutlich wird.

Nachdem die mythische Mutter der Menschheit den Kürbis zur Welt gebracht hatte, brannte sie ein Loch mit einem Eisen hinein. Das war der Ausgang für die verschiedenen Menschengruppen, woraus sich deren verschiedene Hautfarben ergaben. Die Khmu haben, so der Mythos, ihre relativ dunkle Haut dem Umstand zu verdanken, dass sie durch das Loch krabbelten, als dieses noch heiß vom Feuer des Eisens war und so ihre Haut schwärzte. Da die Amerikaner und Europäer erst später an der Reihe waren, nämlich dann, als sich das Loch schon abgekühlt hatte, ist ihre Haut von hellerer Farbe.

Die Legende vom mythischen Kürbis erklärt die in der Region so bemerkenswerte ethnische Vielfalt und spiegelt somit die sozio-kulturelle Realität der Khmu wieder. Der wichtigste kulturelle Differenzmarker ist neben dem Besitz unterschiedlicher Kulturgüter, geistiger Fähigkeiten und Erscheinungsbilder die Sprache: Kurz nachdem die einzelnen Menschengruppen aus dem Kürbis geschlüpft sind, beginnen sie, in unterschiedlichen Dialekten miteinander zu kommunizieren, was im Folgenden zur Formierung einzelner Sprachgruppen oder Ethnien führt, die sich schon bald durch den Tausch zu einem System interkultureller Dynamik zusammen fügten. An was es einem als Gruppe mangelte, wurde durch Tausch von anderen erworben. Bemerkenswert ist, dass in keiner Version ein Argwohn gegen "Fremde" aus Neid oder dem Gefühl der Benachteiligung erhoben wird.

So vielfältig wie das Leben

Die Khmu scheinen die Realität so zu akzeptieren, wie sie sich für sie heute darstellt. In der Erzählung suchen sie nach Erklärungen für kulturelle Unterschiede, keine Schuldigen, die sie für ihre eigene Armut verantwortlich machen. Ein Grund dafür ist sicherlich, dass das Motiv der Armut in ihrer Lebenswelt relativ neu und erst im Zeitalter von Entwicklung (Kanpatthana) und Fortschritt (Kancharoen) im Bewusstsein vieler Hochlandpopulationen entstanden ist. Der Mythos vom "Baum des unermesslichen Reichtums" trägt dieser Entwicklung ökonomischer Ungleichheit Rechnung. Relative Armut und unermesslicher Reichtum werden hier zum Merkmal ethnischer und nationaler Differenzierungen.
Es stellt sich die Frage, welche Motive und Protagonisten künftig die Mythenlandschaft der Khmu ausschmücken werden. Inwiefern werden die in Laos stattfindenden Transformationsprozesse in Geschichten wiedergespiegelt, erklärt und legitimiert? Welche Menschengruppen werden künftig noch aus dem Kürbis klettern, welche Objekte werden zu Symbolen von Macht und Status? Sicher ist, dass der dialogische Prozess des Erzählens, Erfindens und Re-Interpretierens von Geschichte(n) niemals abgeschlossen sein wird, denn die Erzählkultur der Khmu ist so bunt und vielfältig wie das Leben selbst.
   



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