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Per Anhalter durch das südfranzösische Lebensgefühl
REISE | REISETAGEBUCH (15.04.2005)
Von Vera Bellenhaus
Der erste Mensch, der uns mitnimmt; er hält nicht für uns, sondern für den Sonnenuntergang am Strand von Marseille - und auf seiner Ablage liegen Aquarelle in romantischen Farben. Auf ein Bier lädt er uns ein, und lächelt schüchtern. Wir müssen leider ablehnen. Es ist schon spät und wir brauchen noch einen Zeltplatz.

Dass man es mit den Verkehrsregeln in Marseille nicht so genau nehmen muss, zeigt uns Mahmoud, als er im befahrensten Kreisverkehr der Stadt seelenruhig unsere Rucksäcke einlädt. Er war mit seiner Tochter in der Stadt und ist nun auf dem Heimweg in der Luberon. "Das Leben richtig genießen kann man in Südfrankreich nur auf dem Land", schwärmt er von seinem Heimatdorf Cadanet. Zum Abschied gibt es zum ersten und zum einzigen Mal dieser Reise einen Franzosenkuss von ihm und seiner kleinen Tochter - und seine Telefonnummer, denn er bringt uns gern zurück nach Marseille, wenn wir wollen. Überwältigt von soviel Freundlichkeit winken wir dem Auto hinterher.

Auch viele Menschen anderer Länder erlagen den Charme Südfrankreich, und ließen sich hier nieder. Wie etwa eine junge Niederländerin, die ihren Sohn von der Schule abholte und uns dabei einsammelte. Mit 23 kam sie hierher, erzählt sie, und konnte nur drei Wörter französisch. Zwischendurch hält ein Auto neben uns, und sie plaudert kurz mit eine Mann namens Pierre. Uns wird bewusst, warum "tranquille" das Lebensgefühl der Menschen hier am besten beschreibt.

In den Cevennen treffen wir noch ein weiteres Mal auf nicht französische Landsleute, diesmal ein älteres Ehepaar. Er spricht perfekt Englisch, auch ein bisschen deutsch, und erzählt uns von seiner Herkunft aus dem flämischen Teil Belgiens. Während er kurz über die Straße zur Boulangerie läuft, schaut seine Frau ihm hinterher, und fängt an zu schwärmen. "He is 71", sagt sie, und sie hat recht, man sieht es ihm nicht an. Sie selbst ist Niederländerin, berichtet sie. Doch obwohl sie beide die gleiche Muttersprache haben, haben sie ihr Leben lang nur Französisch gesprochen - und ein kleines verträumtes Lächeln huscht über ihr Gesicht.

An einer kleinen, wenig befahrenen Straße in den Cevennen hält ein winziger, vollgepackter Geländewagen mit einer Frau in den Fünfzigern am Steuer. Ich quetsche mich nach hinten zwischen Einkaufstaschen und Rucksäcke und bekomme noch eine Kiste mit Salatköpfen auf den Schoß. Ganz eingefangen vom Panorama der abendlichen Cevennen, verträume ich das halbe Gespräch. Die Frau, die uns fährt, war früher Lehrerin, und arbeitet irgendetwas mit Pflanzen, übersetzt meine Gefährtin Eva etwas hilflos. Sie ist sehr hilfsbereit, bietet uns erst ein paar Kekse an und schließlich zu unserer Überraschung zwei Betten zum Übernachten bei ihr daheim. Ich denke an warme, weiche Matratzen und lehne schweren Herzens ab - wir wollen noch weiterkommen heute. Zum Abschied bekommen wir noch einen Salatkopf - aus biologischem Anbau - und ihre Telefonnummer, falls wir Fragen haben. Wir sind gerührt, als sie in ihr Auto steigt und die 17 Kilometer zurückfährt, die sie für uns zu weit gefahren ist.

Dann gibt es noch die Menschen, die man in seinem Alltag nicht kennen lernen würde, es sei denn, man reist per Anhalter. In unserem Fall ist es ein Geschäftsmann im Anzug, der in einem kleinen unauffälligen schwarzen Auto sitzt. Er spricht sehr gutes Englisch, als Muttersprache Französisch, ein wenig Deutsch und Arabisch. "Arabisch?" frage ich, und erfahre nebenbei, dass er einmal für die französische Botschaft in Nahost gearbeitet hat. Ich bin beeindruckt. "Sprachen lernt man am Besten, wenn man keine andere Wahl hat", sagt er, und berichtet uns von seinem ersten Tag in Nahost, wo er sich ohne ein Wort arabisch und ohne die Adresse seiner Wohnung zu kennen, in einer Großstadt verlief. Nachdem er sie nach Stunden wiedergefunden hatte, schloss er sich zwei Tage ein und lernte 100 Wörter. Wir kommen noch auf andere Themen, er schwärmt von den deutschen Tugenden, Schlössern und Landschaften. Wir holen noch ein paar Reisetipps ein und verabschieden uns.

Andere Menschen säumen unseren Weg, Jean Baptiste und eine Schauspielerin, die auf der Suche nach Arbeit von Brüssel nach Südfrankreich getrampt ist. Jetzt sitzt sie bei Jean Baptiste, einem älteren Künstler mit schulterlangen grauen Haaren und Strickmütze im Pickup und fährt mit ihm durch die Gegend. Ein Schlagzeuger, von Beruf Musiklehrer, der uns weit an seinem Haus vorbei bis tief in die Cevennen bringt und als Opfer für mein meine ersten Französisch-Sprechversuche herhalten muss. Ein Feuerwehrmann, der uns in die Geschichte der Feuerwehr von Napoleon bis heute einweiht. Ein junger Fotograf auf dem Weg nach Barcelona mit einem Auto weich wie ein Sofa. Ein Koch aus Santes Marie de la Mer, der uns zum Abschied eine Kassette schenkt. Und schließlich auch noch der Marokkaner, der uns in die falsche Richtung fährt und fragt, wie alt wir sind und ob wir einen Freund haben.

Die Gesichter sind schon wieder verblasst, sobald die Autos um die Kurve verschwunden sind. Die Geschichten, nur ein Wimpernschlag in dem Leben der Menschen auf unserem Weg, verhallen und verschwimmen bald wie die flirrende Luft am Horizont. Zurück bleibt das Gefühl der Wärme und Zuneigung für ein Land und seine Bewohner. Und der Wunsch zurückzukehren.
   



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