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Im Nachtzug über die Ostsee
REISE | REISETAGEBUCH (15.10.2006)
Von Martina Hempel
Es ist kurz nach 23 Uhr. Ich befinde mich auf dem Weg nach Schweden. Zu meiner Reiseroute gehört die Strecke Berlin-Malmö, die ich mit dem Nachtzug zurücklegen will.

Der Zug - schwedisches Modell in dunkelblau - hat bloß zwei Waggons. Ich vermute im ersten die Einzel- und Doppelkabinen, wohingegen sich die Sechser-Abteile im zweiten Wagen befinden. Dort steige ich ein und erblicke den äußerst, um nicht zu sagen extrem, schmalen Gang. Mir wird klar, dass wenig Gepäck hier definitiv von Vorteil ist, insbesondere, weil sich im Zug auch andere Personen befinden, die sich noch einmal schnell nach draußen schieben wollen, um sich von ihren Familien und Freunden zu verabschieden. Mir bleibt nur der Rückzug - rückwärts, denn mit meinen zwei Rucksäcken kann ich mich weder umdrehen geschweige denn jemanden an mir vorbeilassen. Als sich dann auf wundersame Weise der Gang geleert hat, schiebe ich mich wieder vorwärts.
Die Suche nach meinem Bett mit der Nummer 42 ist gar nicht so einfach, denn erst nach einem Blick in die Abteile erkenne ich die Ziffern, die über den jeweiligen Liegen angebracht sind. Im dritten Abteil werde ich fündig. Dort sind bereits alle Betten belegt. Meines ebenfalls - von einem jungen Mann, der aber bereitwillig in sein eigentliches nach ganz oben umzieht. Augenblicklich wird mir bewusst, dass es die richtige Entscheidung war, beim Ticketkauf einen Schlafplatz ganz unten gewählt zu haben - und ich gelobe mir, es auf allen weiteren Nachtzugreisen ebenso zu tun. Die Motivation für meine Wahl rührt wahrscheinlich von meinen Erfahrungen im Ferienlager her, wo ich bei Doppelstockbetten immer ein unteres vorzog, weil man sich dann viel leichter "ins Bett fallen" lassen konnte.

photocase.com, Benutzer pheebs

(c) photocase.com, Benutzer pheebs

Rechts drei Betten übereinander, links drei übereinander, in der Mitte des Abteils auf dem Fußboden ein großer Koffer. Ich rangiere meine drei Gepäckstücke auf mein Bett: die Kraxe quer ans Fußende, die Umhängetasche ans Kopfende und den Rucksack dann doch lieber auf den Boden neben die Leiter, mit der man die "oberen Etagen" erreicht. Meine Nachbarin, eine Dame mittleren Alters, kommentiert meine Räumaktion mit einer Mischung aus Staunen und Belustigung, durchaus nicht unfreundlich, auf Schwedisch. Als ich nicht so reagiere, wie sie es vielleicht erwartet, fragt sie mich: "Är du svenska?" (wörtlich: Bist du Schwedin?). Ich antworte wahrheitsgemäß mit ein paar Brocken aus meinem sehr rudimentären Schwedisch-Wortschatz "Nej, jag är tyska." (Nein, ich bin Deutsche). Sie versucht es daraufhin erfolgreich mit Deutsch und fragt mich, auf mein Gepäck deutend, wie man nur so viel tragen kann. Ich erkläre, dass ich für zehn Monate in Växjö studieren werde. Ihre Schwiegertochter fange jetzt auch da an - und mir wird wieder einmal bewusst, dass die Welt klein ist.
Im Liegewagen gibt es Kopfkissen, einfache Wolldecken im gleichen Blau wie die Waggons, eine Art Laken sowie Bezüge für die Kissen. Mein Schlafsack kommt also vorerst nicht zum Einsatz. Ich beziehe mein Bett und beschließe, mich hinzulegen - aufrecht sitzen geht nämlich nicht.
Mein Freund ruft an. Ich berichte, dass soweit alles gut geklappt hat und ich die Reise mächtig spannend finde. Ich erzähle ihm, dass auf dem Tisch am Fenster Jogurt-Becher stehen, ein komischer Anblick. Aber die Becher enthalten nichts zu essen, sondern "Mundspülwasser", wie dort in schönem DB-Deutsch gedruckt steht. Nach dem Telefonat verspüre ich große Lust, meine bisherigen Erlebnisse schriftlich festzuhalten und krame Block und Stift heraus.

Im Gang dominieren die Sprachen Englisch und Arabisch. Bei der Abfahrt hört man von draußen, was man mit nicht vorhandenen Arabisch-Kenntnissen wohl mit "Gottes Segen" übersetzen könnte. Der Zug setzt sich in Bewegung, die Lichter der Bahnhofsbeleuchtung huschen vorbei und bald nur noch vereinzelt die der Laternen. Leute stehen im Gang und unterhalten sich. Zwei Amerikaner, ein paar Schweden. Ein deutscher Schaffner kommt vorbei und sieht in alle Abteile, auf der Suche nach freien Betten. Ob es da Leute ohne Reservierung in den Zug verschlagen hat?
Meiner Nachbarin werden die Gespräche zu laut, ich schließe die Türen des Abteils. Nach und nach knipsen alle die Beleuchtung aus und es kehrt Ruhe ein. Diese währt jedoch nicht lange. Wenige Minuten später werden die Türen und Vorhänge wieder geöffnet, das Licht geht an und ein Schaffner bittet uns mit schnarrender Stimme um unsere Fahrausweise. Nach dieser Unterbrechung ist Schlafenszeit.

So richtig geheuer ist mir das alles nicht, denn theoretisch können die mittleren Betten auch nach untern geklappt werden und so richtig vertrauenserweckend sehen die Scharniere nicht aus. Wenigstens kann ich nicht tief fallen. Die anderen zwar dank Fangschnüren auch nicht, aber irgendwie bin ich doch sehr froh über mein Bett in der untersten Etage. Einfach nicht zu viel darüber nachdenken, sage ich mir. Meine Decke riecht nach einer Mischung aus Hund und Parfüm, aber nach einer Viertelstunde fällt mir das schon gar nicht mehr auf und auch an das Geschaukel des Zuges gewöhne ich mich schnell und schlafe schließlich ein.
Als ich erwache ist es etwa sechs Uhr. Ich beschließe, die Gunst der frühen Stunde zu nutzen, um nicht vor dem Klo anstehen zu müssen und schäle mich aus dem Bett. Beim Öffnen der Kabinentür fällt mein Blick sofort auf die hellgelb getünchten Schiffswände. Richtig, Schiffswände. Aus dem Internet wusste ich bereits, dass der Zug in Sassnitz, Insel Rügen, auf die Fähre verladen und später in Trelleborg wieder in die Freiheit entlassen wird. Trotzdem ist es ein sehr sonderbares Gefühl, in einem Zug zu stehen, die leicht schwankenden Bewegungen des Schiffes wahrzunehmen und die Wellen Ostsee zu spüren. Und obwohl man auf eine starre Wand blickt - zu wissen, dass man sich fortbewegt, ist ein wenig irritierend. Als ich schließlich in die Kabine zurückkehre, begegnet mir ein geradezu tropisches Klima. Ich freue mich abermals, dass ich unten liege und krieche zurück unter die Decke.
Etwa zehn Minuten bevor der Zug die Fähre verlässt, geht wieder ein Schaffner durch den Zug, öffnet die Türen der Abteile und weckt alle, diesmal allerdings sehr viel freundlicher als bei der Fahrkartenkontrolle. Es beginnt das allgemeine Anstehen vor dem Klo und dem Bad.

Kurz darauf erleben wir das Spektakel eines von der Fähre auf Festlandsschienen fahrenden Zuges und rollen anschließend durch schwedische Landschaft. Ich bin begeistert. Meine Nachbarin steht ebenfalls am Fenster und kommentiert die verhältnismäßig schlechte Ernte diesen Jahres und dass deswegen das Essen teurer wird. An weiteren abgeernteten Feldern, Wäldern und Seen vorbei gibt es für mich schließlich ein Wiedersehen mit Malmö, durch das ich bereits auf einer Reise nach Finnland gekommen bin. Doch ein wenig erledigt steige ich aus dem Zug, verabschiede mich von den Mitreisenden aus meinem Abteil und bahne meinen Weg in Richtung Bahnhofshalle, wo ich mir zunächst ein Ticket kaufe und dann auf meinen Zug gen Växjö warte.
   





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