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Erst mehr Soldaten, um dann ganz abzuziehen
POLITIK | NACH DER LONDONER KONFERENZ (01.02.2010)
Von Craig Naumann
Die Kernaussage der Londoner Afghanistan-Konferenz ist die sukzessive Übertragung der Verantwortlichkeit für militärische Operationen und den allgemeinen Sicherheitskomplex an das afghanische Militär und die Polizei. Dies ist gekoppelt an den hauptsächlich von den USA getragenen kurzfristigen Aufbau von Kampftruppen sowie von Ausbildungspersonal. Kann das gutgehen?

Der Westen hat sich die Dinge so zurechtgelegt, dass die Verantwortung für die militärische Gesamtlage von nun an forciert dem afghanischen Regime übertragen wird. Zieldaten wurden festgelegt, an denen die westlichen Regierungen ihren projizierten Rückzug festmachen, was die Öffentlichkeit in der Heimat ruhigstellen soll. US-Präsident Obama hat unlängst verkündet, dass der Abbau der US-Truppenpräsenz Mitte 2011 einsetzen werde. Durch die militärstrategische Brille betrachtet sind solche Äußerungen kritisch zu sehen. Der Rückzug an sich ist nicht verwerflich und prinzipiell angesichts des anhaltenden Blutzolls vollkommen verständlich. Allerdings ist absehbar, dass die Taliban die Zeit bis dahin aussitzen werden.

Lehren aus der Vergangenheit

Die Militär- und Sicherheits-Strategen auf beiden Seiten, der westlichen wie afghanischen, vergessen bei der Präsentation dieses Überleitungsszenarios, die Lehren der Vergangenheit zu erwähnen. Die letzten Endes erfolglose Militärkampagne der Roten Armee in den 1980er Jahren zeigte, dass mindestens eine Million Soldaten nötig gewesen wären, um das gesamte Landesinnere sowie vor allem die poröse Grenze zu Pakistan unter Kontrolle zu halten. Auch damals wurde versucht, „hearts and minds“ durch zivile Maßnahmen wie etwa Bildungsförderung und Modernisierung der Infrastruktur zu gewinnen.
Die Gefahr besteht, dass das angedachte afghanische Sicherheitsmanagement so nicht funktionieren wird. Die Aufrüstung der Armee könnte sich bitter rächen, falls die Zentralregierung wie Anfang der 90er Jahre unter bürgerkriegsartigen Zuständen zusammenbrechen sollte. Die anderen Vorhaben, wie die Bekämpfung der Korruption, regional integrierter Aufbau, Einbindung der verhandlungsbereiten Opposition, sind allesamt Wahlversprechen, die nun mit minimalen Veränderungen in London als neue Vision für das Land aufgetischt wurden.

Zur Verantwortung der Afghanen

Drohnen hin, „counterinsurgency“ und „civilian surge“ her - unterm Strich wird es angesichts des über 2010 hinaus angekündigten Abbaus westlicher Truppen in den kommenden Monaten darum gehen, mit der militanten Opposition zu einem einvernehmlichen Kompromiss zu gelangen. Die afghanische Regierung hat das verstanden und versucht momentan, die Flucht nach vorn anzutreten.
Die Ironie dabei ist, dass der Westen jetzt so tut, als ob man die Karzai-Regierung nach langen Jahren des Zuredens endlich zur Einsicht gebracht hätte, mehr Verantwortung zu übernehmen. Dabei versuchen einige wenige aufgeklärte Köpfe innerhalb der Kabuler Regierung schon seit Jahren, Alternativen zur ganz wesentlich von der westlichen Militärmaschinerie geprägten Auffassung des Sicherheitskonzepts auszuloten. Karzai selbst hat schon vor Jahren auf die Notwendigkeit hingewiesen, mit verhandlungswilligen Taliban Gespräche aufzunehmen und wurde dafür mehr als einmal von westlichem Politik- und Militärpersonal in die Pfanne gehauen.

Weitere zivile Opfer zu befürchten

Da es im Frühling dieses Jahres mit dem frischen Kampftruppennachschub vor allem im Süden des Landes erst einmal hoch her gehen wird, sind viele weitere Opfer unter der Zivilbevölkerung zu befürchten. Im Konferenzkommunique von London wird darauf hingewiesen, dass terroristische Anschläge die größte Anzahl ziviler Opfer ausmachten. Abgesehen davon, dass man sich diese Statistik wirklich mal ganz genau vornehmen müsste, geht es doch eher darum, zu erkennen, dass man die zivilen Opfer nicht auseinander dividieren kann. Bezieht man die Weltsicht der Opposition mit in die Gleichung ein, so sind selbst zivile Opfer von Selbstmordattentätern indirekt Opfer der Besatzung.
Die Londoner Konferenz hat ignoriert, dass beide Kriegsparteien zivile Opfer verschulden. Der Gesamtkonflikt hat seit bald einem weiteren Jahrzehnt enorme Opferzahlen zur Folge. Die militärische Logik muss überwunden werden. Für die Afghanen gilt: Sie müssen miteinander reden, sie müssen verhandeln. Und zwar am besten ohne das Hineinwirken von außerhalb, durch den Westen und andere Nichtafghanen. In dieser Hinsicht ist London ein Schritt in die richtige Richtung, allerdings eben unter verzerrten, wenn nicht gar verkehrten Vorzeichen. Die letzten Jahre über wurde durch die blinde Fortführung der auf Siegfrieden ausgerichteten, im Endeffekt in jeder Hinsicht – inklusive des Opiumdesasters – absolut kontraproduktiven Militärstrategie wertvolle Zeit verschleudert.
   








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