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Die permanente Gefährdung der Demokratie
POLITIK | NACH DEM KALTEN KRIEG (15.11.2005)
Von Dietrich Thränhardt
Nach dem Ende des Kalten Krieges 1989/90 sind Demokratie und offene Welt ohne Alternative. Auch wenn nach wie vor das größte Land der Welt, China, von einem undemokratischen Machtsystem beherrscht wird, so strahlen undemokratische Systeme doch keine Faszination mehr aus.

Es gibt kein normatives Gegenbild zur Demokratie. Demokratische Normen sind auch in den internationalen Menschenrechtspakten verankert. Auch die Diskussion um "Asian values" als Alternative zum "Westen" aus den neunziger Jahren ist mit dem ökonomischen Crash in Südostasien am Anfang des Jahrhunderts zu Ende gegangen.

In Osteuropa und in vielen ärmeren Ländern des Südens hat es seit dem Ende des Kalten Krieges eine neue Welle der Demokratisierung gegeben, sie hat trotz einiger Rückschläge in vielen Ländern Bestand gehabt und Dynamik ausgelöst. (Fußnote 1) Man denkt bei dieser Demokratisierungswelle nicht nur an Polen, die baltischen Staaten, die Tschechische und die Slowakische Republik, Bulgarien, Rumänien, Slowenien und Kroatien, sondern auch an die meisten Länder Lateinamerikas, Südafrika, Marokko und andere afrikanische Staaten, Südkorea, Taiwan und andere asiatische Länder. Im Oktober 2003 hat sogar die Regierung Saudi-Arabiens Wahlen auf lokaler Ebene angekündigt, allerdings zunächst nur für die Hälfte der Mitglieder der Gemeinderäte. Im Frühjahr 2005 sind diese Wahlen durchgeführt worden, allerdings durften nur die einheimischen Männer wählen und Parteien waren nicht zugelassen. Die andere Hälfte der Gemeinderäte wird wie bisher vom König ernannt. (Fußnote 2)

Gleichzeitig erleben wir neue Krisenzeichen in etablierten Demokratien. Mit dem Wahlsieg und dem Regierungsstil Berlusconis in Italien sind in einem großen demokratischen Land Grundnormen verletzt worden, die als selbstverständlich galten. Die Trennung zwischen Privatbesitz und Regierungsverantwortung scheint aufgehoben, der größte Medientycoon ist gleichzeitig Regierungschef, die Justiz wird systematisch eingeschränkt, Korruption wird durch Amnestien gezielt begünstigt und straffrei gestellt und die Beziehungen der Machthaber zur Mafia erleben eine neue Blüte. Ist dies - so fragt Paul Ginsborg, einer der besten Kenner der italienischen Politik - der Beginn eines Trends oder nur ein nicht signifikanter Sonderfall?(Fußnote 3) Ginsborg sieht Parallelen in anderen Ländern: der Dominanz des Medienmoguls Rupert Murdoch in Großbritannien und Australien und ähnlichen Erscheinungen in Frankreich, Brasilien und Thailand. Ein anderes vieldiskutiertes Problem ist die Schwächung der nationalstaatlichen Aktionsmöglichkeiten angesichts der Globalisierung der Wirtschaft. Dies öffnet den Bürgern der reichen Länder zwar die ganze Welt. Sie können kaufen, was sie wollen und sie können reisen, wohin sie wollen. Der Nationalstaat kann mit dieser Öffnung aber ihre Arbeitsplätze nicht mehr schützen. In diesem Zusammenhang geraten die sozialen Standards, die lange Zeit als sicher galten, unter Druck. Jüngstes Beispiel ist der Konkurs des Autoherstellers Delphi, der die Pensionskasse und die Tarifrechte seiner Angestellten aushebelt und die Gefahr heraufbeschwor, dass gleiches mit dem Autogiganten General Motors geschehen könnte - einem Unternehmen, von dem einst gesagt wurde: "Was gut für General Motors ist, ist auch gut für die Vereinigten Staaten". Damit verbunden sind Veränderungen in der amerikanischen Politik und Sozialstruktur, mit denen Exklusionen aus der Wirtschaft und aus der Politik erfolgen: immer mehr Obdachlosigkeit, immer mehr Gefängnisinsassen und immer geringere Wahlbeteiligung. (Fußnote 4) Auch in Europa wird das Problem der Exklusion großer Bevölkerungsschichten diskutiert. Die Politik scheint in vielen Ländern immer weniger fähig zu sein, inklusive Verhältnisse herbeizuführen. Statt dessen scheint sie vor der Alternative wachsender Überlastung der Sozialsysteme oder der radikalen Absenkung der Standards zu stehen. Alternativen, in denen finanzielle Seriosität und soziale Stabilität produktiv miteinander verbunden werden, wie dies etwa in Schweden und Kanada geschieht, werden wenig diskutiert. Sie passen nicht in neoliberale ökonomische Modelle einerseits und Bestanderhaltungsdenken andererseits. (Fußnote 5)

Die reichen Länder erleben eine neue Welle der Selbstreferentialität, kulturealistische Abgrenzungen werden prominent (Fußnote 6) und die "eine Welt" bzw. in anderer Terminologie die "Dritte Welt" gerät außerhalb der Wahrnehmung. Nach dem 11. 9. 2001 ist dies umgeschlagen in eine neue missionarische Haltung, bei der allerdings der "Kampf gegen den Terror" eine größere Rolle spielt als die Demokratisierung. Der "Kampf gegen den Terror" ist mit einer anderen Neuheit verbunden: der Aufhebung des Tabus der Folter, sowohl im Rahmen der amerikanischen Armee wie einer neuen Art der Globalisierung der Folter durch Outsourcing. Eine weitere neue Entwicklung ist die Tendenz zur Aufhebung der Abgrenzung zwischen Religion und Politik, sowohl in einer islamischen wie in einer christlichen und in einer jüdischen Variante.

Demokratie ist also einerseits immer mehr verbreitet, andererseits aber auch immer in ihrer Qualität gefährdet, selbst in ihren historischen Kernländern. Nicht vergessen darf man dabei auch, dass nach wie vor 25 % der Menschen in der Welt in "unfreien" und weitere 29 % in "teilweise freien" Systemen leben (Freedom House 2004).


privat

(c) privat


Autor Dietrich Thrändardt ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft.




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Fußnote 1
Samuel P. Huntington (The Third Wave. Democratization in the Late Twentieth Century. Norman/ London. 1991) spricht dabei von einer "dritten Welle? Kritisch dazu Dietrich Thränhardt, Die Ausbreitung der Demokratie und die demokratische Weltordnung, in: Demokratische Ordnungen nach den Erfahrungen von Totalitarismus und Diktatur. Eine international vergleichende Bilanz, Münster: Lit 2003, 11-28; Christian Welzel, Humanentwicklung, Systemwettbewerb und Demokratie, in: Hans-Dieter Klingemann/ Friedhelm Neidhardt, (Hg.), Die Zukunft der Demokratie: Herausforderung im Zeitalter der Globalisierung, Berlin 2000, S. 471-502.

Fußnote 2
Riyad se prépare aux premières élections politiques de son histoire, Le Monde, 14. 10.2003. Saudi-Arabien hatte in der Vergangenheit Druck auf andere Golfstaaten ausgeübt, ihre Parlamente aufzulösen.

Fußnote 3
Vgl. Paul Ginsborg, Berlusconi. Politisches Modell der Zukunft oder italienischer Sonderweg? Berlin: Wagenbach 2005; Andrea Camilleri, Italienische Verhältnisse, Berlin: Wagenbach 2005.

Fußnote 4
Vgl. dazu die Diskussion in Susan J. Pharr/ Robert A. Putnam (Hg.), Disaffected Democracies. What's Troubling the Trilateral Countries? Princeton: Princeton University Press 2000.

Fußnote 5
Vgl. Wolfgang Merkel/ Christoph Egle/ Christian Henkes, Die Reformfähigkeit der Sozialdemokratie, Wiesbaden: VS 2005.

Fußnote 6
Samuel Huntington, Kampf der Kulturen. München 1996.
   



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