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Grenzenlose Werbewelt
KULTUR | MIT OFFENEN AUGEN (15.04.2008)
Von Michael Billig
Kleidung mit Einschusslöchern, ein Mann in der Todeszelle, Pferdesex - Werbung kennt keine moralischen Grenzen. Besonders deutlich wird diese Botschaft in der Ausstellung "Radical Advertising" im Düsseldorfer NRW-Forum Kultur und Wirtschaft.

Getreu dem Prinzip "Was nicht auffällt, fällt durch" kleben an schneeweißen Wänden blutrote Aufkleber. Sie sind Teil der Schau, und sind es auch wieder nicht. Sie sind Werbung und Führer durch die Ausstellung. "Powered by Nokia" steht unübersehbar auf ihnen geschrieben. Während es sich mit dem Nokia-Werk in Bochum ausgepowert hat und es deswegen sogar Boykottaufrufe gab, verbindet der Handy-Hersteller hier die Besucher mit Mieze, der Sängerin der Popband Mia. Mieze erscheint auf einem Display und verrät ein paar Hintergrundinfos. Ihre Stimme ist die einzig nachdenkliche im ganzen Haus. Ein paarmal kommt sie zu Wort – wenn man dafür auf das Nokia-Gerät zurückgreifen will. Es gibt die Podcasts aber auch im Internet.




Der Schockfaktor

Der Bruch mit der klassischen Modefotografie zu Beginn der 1980er Jahre, die Vermischung von Mode mit Medien, Kunst und Musik wird als Wurzel des "Radical Advertising" dargestellt. Damit steigt die Ausstellung ein. Welche Ausmaße das angenommen hat, offenbart sie anhand der berühmt-berüchtigten Kampagnen diverser Textilhersteller. Sie finden sich als Farbbilder im NRW-Forum wieder, einer von ihnen auch als Sponsor der Ausstellung. Bei ihm gilt vor allem die goldene Regel: "Sex sells". Radikal und schockierend, sagen die Macher. Abstoßend, die Kritiker. Ein anderes Beispiel für die Vieldeutigkeit von Werbung: Eine Fotoserie zeigt einbeinige Frauen, die für Schuhwerbung in die Kamera lächeln. Ein Tabubruch, der auf reißerische Effekte zielt. Es könnte aber auch eine Anti-Diskriminierungs-Kampagne sein.

Daniele Buetti

Werbung, die unter die Haut geht. Aus der Ausstellung "Radical Advertising". (c) Daniele Buetti

Adbusting (Verfremdung von Reklame), Guerilla-Marketing, Visual-Kidnapping – Künstler reagieren auf den Markenkult und die Kommerzialisierung der Welt. Die Fotografien des Schweizers Daniele Buetti zeigen in die menschliche Haut tätowierte Globalplayer. Hier ist es "GOODYEAR" über dem Bauchnabel, dort "NINTENDO" auf der Innenseite des Unterarms. Photoshop lässt grüßen. Doch die Fiktion wirkt.
Juan Isidro Casilla hat sich mit einer Reihe gefälschter Anzeigen in die Medien geschlichen. Darauf ist sein Konterfei, der Künstler als Model, zu sehen. Produktabbildung, Schrift, Logo entsprechen vollständig dem Markenauftritt von Gucci, Armani und Pepe Jeans. Eine kriminelle Angelegenheit, weil die Buchungen unter dem Namen der Unternehmen erfolgte, und sie auch die Rechnungen erhielten.

Eingebettete Kritik

Die cleversten Strategen unter den Millionen von "Werbefuzzis" nehmen diese Anti-Ideen auf, transferieren und nutzen sie wieder für eigene Zwecke. Eine Agentur inserierte mit einer Doppelseite in Werbefachmedien mit dem Porträt Casillas und dem Slogan: "Buchen Sie Ihre Anzeige, bevor er es für Sie tut." Angezeigt wurde auch Zevs, der das weibliche Model aus einem riesengroßen Lavazza-Banner am Berliner Alexanderplatz herausgeschnitten, "entführt" und in einem Bekennerschreiben 500.000 Euro Lösegeld gefordert hatte. Als Drohung schickte er noch einen der Papierfrau abgetrennten Finger an die Firmenleitung in Italien. Das war 2002 und seitdem tourte er damit durch die Galerien Europas. Erst im vergangenen Jahr rückte er das Kaffeemodel in einer fingierten Geldübergabe wieder raus. Tatsächlich soll eine halbe Million geflossen sein.

Während der Künstler Zevs auf die Überflutung kommerzieller Bilder im öffentlichen Raum aufmerksam machen will, profitieren Unternehmen wie Lavazza zugleich von der medialen Verbreitung solcher Aktionen, zumal die Kritik nicht dem Produkt an sich gilt. Die Künstler bescheren der Marke einen PR-Effekt. Bevor man ein Produkt kaufen kann, muss man es erst einmal kennen und darf es nicht wieder vergessen. Das ist auch die Strategie von Werbung auf Plakatwänden, Fernsehbildschirmen, Zeitungsseiten und über Radiowellen.
Im Zeitalter des Web 2.0 spricht die Werbung den einzelnen auf seine spezifischen Bedürfnisse an. Sie ist maßgeschneidert. Dass sich deswegen die Branche von der Massenkomunikation entferne, wie die Ausstellungsmacher behaupten, klingt zweifelhaft. Noch mehr überrascht das "Happy End". Es finde eine Demokratisierung der Werbung statt. Produzenten und Konsumenten seien auf Augenhöhe. Dabei wird im NRW-Forum Kultur und Wirtschaft deutlich: Auf Augenhöhe bewegen sich lediglich die Werbung und die Kunst. Auch in Sachen Moral.

"Radical Advertising" im NRW-Forum Kultur und Wirtschaft in Düsseldorf, bis zum 26. August 2008

Weiterführende Links
http://www.radicaladvertising.deRadical Advertising - Die Ausstellung im Netz, mit Podcasts
   





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