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Anschein der Aufarbeitung
GESELLSCHAFT | LUDWIGSBURGER ZENTRALE STELLE (16.04.2013)
Von Christian Sigrist †
Am 8. April dieses Jahres erschien in verschiedenen Printmedien die Meldung: "Vorwurf: Beihilfe zum Mord". Gegen 50 noch lebende Aufseher des KZ Auschwitz wird ermittelt. Während belastete Richter und Schreibtischtäter in der Vergangenheit geschont wurden, soll nun der Anschein der vollständigen Aufarbeitung erweckt werden.

Bundesarchiv

27. Januar 1945, Eingang des KZ Auschwitz: Die Wachmannschaften sind geflohen. Heute wird gegen sie ermittelt. (c) Bundesarchiv

Es bedarf nach Ansicht der "Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen" keines besonderen Tatbeitrags, um ein Ermittlungsverfahren einzuleiten. Auch wenn die vermuteten Täter an die 90 Jahre alt sind, sollen die Verfahren eingeleitet werden - das unwürdige Schauspiel wird wie im Demjanjuk-Prozess in Kauf genommen. Das politische System erspart sich damit auch Vorhaltungen wegen vergangener Prozesse gegen Honecker und Mielke.

Die jahrelang untätige Zentrale Stelle mit Sitz in Ludwigsburg kann so ihre Existenz noch um etliche Jahre verlängern, zumal die Verfahren auch auf andere Konzentrationslager ausgedehnt werden sollen.

Mit diesen Massenverfahren soll nunmehr der Anschein der Aufarbeitung der NS-Verbrechen hergestellt werden.

Damit werden ganz aktuell die zentralen Argumente meiner schon 1973 formulierten Kritik [1] an der postfaschistischen deutschen Justiz auf groteske Weise, vergröbernd, bestätigt, aufgrund deren ich der BRD-Justiz die Legitimität absprach, über die RAF zu Gericht zu sitzen. Damals schrieb ich, "daß die Justiz der BRD die postulierte Selbstreinigung von den Verbrechen der Nazi-Justiz-Phase nicht in der Weise durchgeführt hat, daß jene Verbrechen wirklich sanktioniert wurden. Die vorzeitige Pensionierung der ‚belasteten' (!) Juristen kann doch wohl nicht als Sanktion gelten. Die notwendige radikale Säuberung wurde bewusst verhindert zugunsten der Beseitigung des ‚Ärgernisses' auf dem Wege eines gentlemen-agreement. Wichtig ist aber, sich klar zu machen: Warum unterblieb eine radikale Säuberung der Justiz, warum erfolgte die Bestrafung schuldiger Juristen nicht? Eine Antwort, die beim esprit de corps, der ständischen Solidarität stehen bliebe, wäre falsch.

Ungesühnte Nazi-Justiz

Statt aus diskutablen Prämissen zu deduzieren, möchte ich die Antwort induktiv ermitteln. 1960 schloss die SPD eines ihrer Mitglieder, den Studenten der Indogermanistik Reinhard Strecker, aus. Strecker hatte die Ausstellung ‚Ungesühnte Nazijustiz' organisiert. In einer Diskussion mit Delegierten des Landes-Partei-Vorstandes in Stuttgart erklärten mir damals [zwei] sozialdemokratische Juristen, welche die Ludwigsburger Zentralstelle aufbauten, warum diese Ausstellung parteischädigend sein sollte: Sie trage zur Verunsicherung der Richter bei. Das Ausgraben der Nazi-Vergangenheit von Juristen, obendrein mittels Dokumenten aus der DDR, sei kommunistisch gesteuert und diene dem Ziel, eine rechtliche Verfolgung von Richtern und Staatsanwälten, die im 3. Reich Regimegegner, darunter auch Kommunisten, verurteilt hatten, zu erzwingen und damit auch die nicht belasteten Richter so einzuschüchtern, dass sie nicht mehr wagten, gegen Kommunisten abschreckende Strafen zu verhängen.

Schon die Bezeichnung der Ludwigsburger ‚Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Verfolgung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen[2]' zeigt an, in welcher Richtung das Problem gelöst wurde: das Schwergewicht der Ahndung richtete sich gegen die untergeordneten Exekutoren der faschistischen Verbrechen, die intellektuellen Urheber und die materiellen Nutznießer wurden weitgehend geschont.

Der Klassencharakter der Justiz zeigte sich selbst in dieser vorgeblichen rechtsstaatlichen Sühnung nationalsozialistischer Verbrechen, insofern sie in erster Linie Kriegsverbrecher mit niederer sozialer Herkunft traf, während Schreibtischtäter wie Globke, Vialon, Schlegelberger, Rehse, Hahn, Bütefisch ... nicht belangt wurden oder durch Ausnutzung aller Rechtsmittel einer effektiven Bestrafung entgingen."

In diesem Beitrag für das Komitee gegen die Isolationshaft habe ich allerdings auch eine Überlegung angestellt, die im Augenblick von bedrückender Aktualität ist: In einem Gedankenexperiment stellte ich die Frage, ob die BRD mit gleicher Wucht gegen rechtsextreme Terroristen vorgehen würde wie gegen die RAF. Damals antwortete ich, dass rechtsextremer Terror keine Funktion für die herrschende Klasse in Deutschland haben konnte, weil der Faschismus institutionell "aufgehoben" war. Erst auf dem Oktoberfest 1980 ist ein rechtsextremer Anschlag mit bis heute nicht erreichten Verlustzahlen (zehn Tote) verübt worden. Zunächst wurden Linksterroristen dafür verantwortlich gemacht, aber recht bald stellte sich der reaktionäre Ursprung dieses Attentats heraus. Meine frühere Aussage über die Affinität zwischen offiziellem Repressionssystem und reaktionärem Radikalismus wird durch die jahrelange Protektion und Fahndungshemmung gegenüber dem NSU bestätigt [3].

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Fußnoten
[1] Sigrist, Christian (1973), Imperialismus: Provokation und Repression. In: Kursbuch 32, 137-141.
[2] Heute heißt es allerdings nur noch "Verbrechen".
[3] Ergänzende Lektüre: siehe den Eintrag "Ungesühnte Nazijustiz" auf Wikipedia.

Weiterführende Links
http://www.zentrale-stelle.de/servlet/PB/menu/1193201/index.htmlZentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen. zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen
http://en.auschwitz.org/m/Gedenkstätte und Museum Auschwitz-Birkenau
   




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