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Digitales Zeitalter: Eine Fliege geht in die Geschichte ein
KULTUR | KURZGESCHICHTE (30.06.2009)
Von Katharina Nocun
Sie ist schwarz-weiß und liegt unten links in der Ecke. Fragil und ausdrucksstark streckt sie ihre Beine von sich, etwas angewinkelt, so als hätte sie geahnt, dass ich sie in diese Ecke pressen würde. Es war ein Moment für die Ewigkeit.

Man kann sie über einen digitalen Zugang zur Staatsbibliothek bestaunen. Tagtäglich bestaunen nun Menschen mein Meisterwerk in Schwarz-Weiß und ich ärgere mich von Tag zu Tag mehr, dass ich es nicht signierte, damals, in diesem einen kleinen flüchtigen Moment, in dem ich mich verewigte.
Wie es passierte, dass ich und meine Kunst unsterblich wurden? Nun ja, es war in meiner Studienzeit, den Kopf noch voller wohlschmeckender Illusionen. In die Wissenschaft wollte ich damals gehen, wie alle von uns zu jener Zeit. Mein tägliches Brot verdiente ich mir damit, fremdes anerkanntes und ausgedrucktes Wissen zu archivieren und zu verewigen. Durch den Fördertopf der Europäischen Union ist unsere Universitätsbibliothek in den Genuss zweckgebundener Gelder gekommen, um ihre Bücher endlich digitalisieren und in die europäischen Universitätsbibliotheksverzeichnisse einstellen zu können.
Miko

Per Knopfdruck (c) Miko


Wir scannten den ganzen Tag und es war weiß Gott eine ermüdende und wenig anspruchsvolle, geistlose Arbeit. Wir hievten die Bücherberge auf den Rollwagen, glichen den Wissensberg mit dem vom dienstältesten Bibliothekar am Computer erstellten Index (der nach einen mir unbekannten Prinzip aussortierten und) erhaltenswerten Bücher ab und rollten in den Aufzug, in den Keller.
Dort standen zwei Kopierer, Monster aus dem letzten Jahrzehnt. Im Winter erzeugten sie durch die ihnen entströmende Hitze und das leise Brummen eine geradezu einlullende Atmosphäre der Behaglichkeit. Aber jetzt, im Sommer war es anders.
An jedem stand nun in krummer Haltung einer dieser traurigen Studenten, die schon lange nicht mehr ins Tageslicht geblinzelt haben. Der Schweiß machte, dass die Polohemden wie eine zweite, dicke und unebene Haut an uns klebten. Wenigstens an den Geruch haben wir uns inzwischen gewöhnt. Er wurde einfach ausgeblendet, wie lästige Werbung oder die Tatsache, hier zu sein.
Nicht nur die Automatisierung der Bibliotheksbestände war vorangeschritten in den letzten Jahren. Auch ich ertappte mich immer öfter dabei, mich in einem meditativen Zustand der Trance zu versetzen, sobald ich mich länger als zwei Stunden lang in diesem Raum befand. Lediglich das Brummen einer Fliege vermochte mich diesem Zustand zu entreißen. Ich schlug sie tot, als sie auf dem Kopierer landete. Scheißvieh.
Wir scannten die Bücher ein und ich dachte weiter über meine glorreiche Zukunft nach, während ich in den aufgehenden Schein des Kopierers starrte. Ich strich mir eine Haarsträhne aus den Augen, als ich mich über das monströse Gerät beugte. Umblättern. Wieder mal. Ein kurzes schwarzes Haar löste sich von meiner Kopfhaut. Es blieb auf Seite 476 liegen, die Haarwurzel fein definiert und mustergültig ausgewachsen. Es lag direkt neben der toten Fliege in dem Kapitel über fiskalische Föderalismustheorie.
   






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