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Parteien erobern das Netz
POLITIK | INTERNET UND POLITIK (15.05.2008)
Von Sarah Khalil
Bis vor einigen Jahren fand man sie nur in den Fußgängerzonen und auf ein paar Stadtfesten, heute sind die Wähler noch nicht einmal im Second Life, oder auf ihrem eigenen Mailserver vor ihnen sicher: Politiker haben das Internet erobert.

Doch wie unterscheidet sich eigentlich digitale, elektronische oder auch virtuelle Demokratie von der „realen“, bei der die mehr oder weniger herausgeputzte Politprominenz um die Gunst des Wahlvolks buhlt? Erreicht die Politik durch E-Democracy tatsächlich den Wähler oder ist sie nur die neue Form für alte Parolen?

„E-Government begreift den Bürger als Dienstleistungsnehmer. E-Democracy begreift ihn als Souverän.“

Fast ohne dass es der Bürger gemerkt hat, verlaufen nun immer mehr Verwaltungsabläufe digital. Ob man nun das Ummelden über das Internet erledigt, einen Anwohnerparkausweis beantragt oder Wahlunterlagen für den Bürgerentscheid über die Musikhalle bestellt. All das lässt sich – zumindest teilweise – online erledigen und wird unter dem Begriff E-Government zusammen gefasst. „Dabei geht es in erster Linie darum, den Bürger als Dienstleistungsnehmer zu begreifen“, sagt Dr. Christoph Bieber, Wissenschaftlicher Assistent am Institut für Politikwissenschaft der JLU Gießen.
Spannender für Politiker und Wähler ist hingegen die E-Democracy. Sie begreift den Bürger als Souverän, der sich zum Beispiel als Experte an Online-Debatten über Gesetze beteiligt. Wie in Deutschland üblich, bestimmen Parteien diese Debatten im Netz. Unmittelbar nach dem Aufkommen des Worldwide Web 1995 sind die virtuellen Parteizentralen entstanden. „Das waren Websites, die für die Außenkommunikation mit interessierten Bürgern und natürlich auch mit Parteimitgliedern gedacht waren“, berichtet Bieber. Mailinglisten und andere Features sollten auch diejenigen in die Parteien locken, denen die Stammtischdebatten zuwider waren.

„Das sind alles Formate, die im Vordergrund standen, bis die nächste digitale Sau durchs Dorf getrieben wurde“

Auch Kampagnenführer entdeckten das Internet für sich und gingen in den USA erstmals 1996 auf Stimmenfang. Doch diese Maßnahmen veränderten zunächst nur die Oberfläche der Kommunikation. Durch Websites, Mailinglisten und später Chats versuchten die Parteien, die Nutzer in parteiinterne oder politikerbezogene Diskussionen einzubinden. „Das sind alles Formate, die im Vordergrund standen, bis die nächste digitale Sau durchs Dorf getrieben wurde“, beschreibt Bieber diese Trends. Besonders umtriebig wurde die Politik immer dann, wenn sie glaubte, auf einem neuen Kanal um Wähler werben zu können. So verwunderte es Bieber zwar erst, dass im Bundestagswahlkampf 2005 Politiker mit Podcast-Angeboten über I-Tunes an den Start gingen. Doch schon die Ausweitung auf Video-Podcasts war nur noch wenig überraschend. „Nach der Regierungsübernahme durch Frau Merkel war ein Video-Podcast der Kanzlerin die logische Konsequenz“, berichtet Bieber. Inzwischen hat sich SPD-Chef Kurt Beck ebenfalls im Web 2.0 eingerichtet und lädt auf Youtube zur digitalen Bürgersprechstunde. Noch ist unklar, ob er dadurch tatsächlich neue Wählerschichten erreicht, doch die Spin-Doctors haben alle Entwicklungen sehr genau im Blick und werden bis zur nächsten Bundestagswahlkampf ausgewertet haben, welche digitale Präsenz sinnvoll ist und, welche künftig gestrichen wird.

„Die Integration digitaler Medienkommunikation ist für viele Parteien so etwas wie eine Provokation.“

Während die Auswirkung des Web 2.0 auf die Wahlkämpfe deutlich zu spüren ist, blieb der digitale Fortschritt innerhalb der Parteien bisher fast folgenlos. „Die Integration digitaler Medienkommunikation ist für viele Parteien so etwas wie eine Provokation.“ Schließlich sägt sie an etablierten Machtstrukturen. So stieß die SPD, als sie den digitalen Ortsverein einrichtete, ebenso auf
REGIERUNGonline

Kanzlerin Angela Merkel hat im Internet einen direkten Draht zur Bevölkerung. (c) REGIERUNGonline

Widerstände wie die FDP mit ihrem Projekt Landesverband.net. Denn laut Parteiengesetz ist es zwingend notwendig, einen Orts- oder Landesverband geographisch einzugrenzen. Diese Formalia sind in Zeiten, in denen Parteien die Mitglieder weglaufen, nicht gerade eine Erleichterung.

Auch deshalb versuchen Parteien immer wieder, diese Hürden zu umgehen. Einen interessanten Weg geht dabei die FDP, die sich als die Internetpartei der deutschen Politik begreift und auf Wikiliberal zur Programmdiskussion aufruft. Obwohl in dieser Debatte kluge Kommentare neben sehr populärem Geschwätz stehen, ist wiki.LIBERAL ein schönes Testfeld dafür, wie die "Digitale Demokratie" funktioniert und ob sie überhaupt angenommen wird. Spannender als Kanzlerinnen-Podcast-TV ist wiki.LIBERAL allemal, denn es könnte tatsächlich die parteiferne Klientel zu den Liberalen schleusen.

Mit der neuen Offenheit werden jedoch nicht nur die alten Strukturen der Parteien aufgeweicht, sondern es stellen sich auch ganz neue Herausforderungen. Denn theoretisch ist es möglich, dass sich ein SPDler in die Programmdiskussion der Liberalen einschleicht – entweder, um sie zu beeinflussen, oder – was wahrscheinlicher ist – um sie auszuspionieren und für eigene Wahlkampfzwecke zu nutzen. Das ist zwar extrem aufwändig und wird deshalb laut Einschätzung von Christoph Bieber nicht zum politischen Alltag gehören. Dennoch kann diese neue Offenheit den Politikstil verändern: „Das könnte sogar zu einer expliziten Wahlkampfstrategie ausgebaut werden, entweder um sehr früh über das informiert zu werden, was der Gegner plant oder, um ihm vielleicht ein paar Beine zu stellen.“

„Alte und neue Medien sind im Paket sehr gute Instrumente, um Aufmerksamkeit zu schaffen.“

Diese Details interessieren den Durchschnittswähler kaum. Doch auch sein Alltag wird sich durch die Politik im Internet verändern. Denn das Verfolgen politischer Debatten via Mausklick ist wohl gerade für die jüngere und gebildete Klientel eine spannende Alternative und Ergänzung zur Fernsehdebatte, erläutert Bieber: „In Zukunft wird es darauf ankommen, eine Struktur herzustellen, die auf der einen Seite Aufmerksamkeit generiert – und dafür ist derzeit immer noch das Fernsehen das beste Vehikel – und auf der anderen Seite eine Umsetzung in tatsächliche Beteiligung an politischen Diskussionen und Prozessen schafft. Und da kann dann unter Umständen das Internet wirksam eingesetzt werden.“ So könnte die Fernsehdebatte der Kanzlerkandidaten ein guter Aufhänger sein, um den Politikstil und die Programme im Internet weiter zu diskutieren und im besten Fall selbst aktiv zu werden. „Dafür sind alte und neue Medien nicht zuletzt im Paket miteinander geschnürt, sehr gute Instrumente.“

Damit sich Biebers positive Prognose erfüllt, müssen künftig möglichst viele Wähler unterschiedlicher sozialer Schichten an die Bildschirme von Fernseher und vor allen Dingen Laptop gelockt werden – eine Zukunftsvision, an der einige Soziologen zweifeln. So merken Kritiker an, dass auch im Internet nur wahrgenommen wird, wer die technischen und auch finanziellen Möglichkeiten hat, sich Gehör zu verschaffen. Die oft unübersichtlichen und unsachlichen politischen Dialoge im Netz bieten oft in erster Linie Populisten ein Forum und schrecken ernsthafte Diskutanten ab. Selbst der scheinbar direkte E-Mail-Kontakt zu den Politikern ist oft weit bürokratischer als gedacht. Nur selten antworten die befragten Politiker selbst. Oft senden ihre Mitarbeiter die gleichen nichtssagenden Briefe per E-Mail, die sonst per Post kamen. Da kann es manchmal sein, dass der Kontakt zum Abgeordneten am Wahlstand direkter ist.

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