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Über mehr Herrschaft des Volkes
POLITIK | IM GESPRÄCH (15.03.2008)
Von Michael Billig
Parteien und Politiker entscheiden, das Volk sei zum Zuschauen verdammt. Das beklagt Dr. Michael Efler, Vorstandsmitglied im Verein "Mehr Demokratie". Wie er zu seiner Kritik kommt und was für die Mitbestimmung des Einzelnen zu tun sei, darüber haben wir mit ihm gesprochen.

Ihr Verein setzt sich wie es der Name schon sagt für mehr Demokratie ein. Haben wir in Deutschland zu wenig Demokratie?

Mehr Demokratie e.V.

Dr. Michael Efler, Vorstandsmitglied im Verein (c) Mehr Demokratie e.V.

Efler: Ja, haben wir. Wir haben in Deutschland eine repräsentative Demokratie. Parteien und Politiker haben ein Monopol auf politische Entscheidungen, während das Volk zuschauen muss. Demokratie bedeutet: Herrschaft des Volkes. Das ist in Deutschland auf Bundesebene nur sehr eingeschränkt realisiert.

Was macht „Mehr Demokratie e.V.“ ganz konkret?

Efler: Wir sind in den Bundesländern aktiv und haben dort Möglichkeiten der direktdemokratischen Mitbestimmung eingeführt oder verbessert. Entweder durch Überzeugungsarbeit bei Parteien und Politikern oder durch Kampagnen, in denen wir selbst Volksentscheide über verbindliche Mitbestimmungsregeln initiiert und vielfach auch durchgebracht haben.

Um ein Bürger- oder Volksbegehren überhaupt in Gang zu setzen, braucht man erst einmal genügend Unterschriften. Da sind die Anforderungen in den einzelnen Bundesländern sehr unterschiedlich. Wie viel Prozent aller Wahlberechtigten sollten Ihrer Meinung nach dafür ausreichen?

Efler: Wir haben in der Tat in Deutschland sehr unterschiedliche Hürden für Bürgerbegehren auf kommunaler Ebene. Das geht von drei Prozent in Hamburg und Berlin bis 20 Prozent in Thüringen. Dort, wo die Hürden geringer sind, ist die Anzahl von Bürgerbegehren weit höher als in anderen Bundesländer. Eine Hürde von drei Prozent, die überwunden werden muss, damit es zum Bürgerentscheid kommt, halte ich für absolut angemessen. Es ist nicht zu hoch und nicht zu niedrig. Selbst daran scheitern noch eine Reihe von Initiativen.
Bei Volksbegehren, also direktdemokratischen Begehren auf Landesebene, ist das Verfahren dreigeteilt. Damit es überhaupt zum Volksbegehren kommt, müssen je nach Bundesland unterschiedliche Unterschriftenquoren erreicht werden. Im schlechtesten Fall müssen auf dieser ersten Stufe über drei Prozent der Bevölkerung unterschreiben. Im besten Fall können 0,02 Prozent per Unterschrift ein Volksbegehren einleiten. Erst dann kommt es zur Unterschriftensammlung für den Volksentscheid.

Und wie viel Prozent sollten ausschlaggebend sein, um einen Volksentscheid „von unten“ zu veranlassen?

Efler:Auch hier möchte Mehr Demokratie ein möglichst niedriges Quorum: Wie in der Schweiz sollten zwei bis drei Prozent der Wahlberechtigten ausreichen, um die Abstimmung über eine Sachfrage per Volksentscheid durchsetzen zu können.

Besteht nicht die Gefahr, dass Entscheidungen von Politikern – sei es willkürlich oder aus einem bestimmten Machtkalkül heraus – inflationär blockiert werden?

Efler: Es gibt bisher weder auf Landesebene noch international Beweise dafür, dass politische Entscheidungen blockiert werden. In der Schweiz und den USA, wo direkte Demokratie intensiv praktiziert wird, sind keine derartigen Probleme belegt. Es gibt natürlich Einzelfälle, in denen Entscheidungen verzögert werden, genauso lassen sich aber Beispiele finden, wo sie beschleunigt werden. Zudem sind auch die sogenannten Korrekturbegehen, die sich gegen einen bereits getroffenen Beschluss richten, nicht immer als Blockade der Politik zu verstehen. Es gibt meist Alternativvorschläge, die die Politik einer Gemeinde keineswegs blockieren, sondern nur anders gestalten wollen.

Gab es in der Vergangenheit Bürger- oder Volksentscheide, die wieder rückgängig gemacht worden?

Efler: Es gibt Fälle, in denen das Votum der Bevölkerung missachtet wurde. 1998 zum Beispiel hat sich in Schleswig-Holstein eine Mehrheit der Abstimmenden gegen die Rechtschreibreform ausgesprochen. Anders als versprochen wurde die Reform trotzdem nicht gestoppt. Ein anderes Beispiel: In Hamburg haben Senat und Bürgerschaft wichtige Änderungen des Wahlrechts, die 2004 per Volksentscheid beschlossen worden waren, wieder rückgängig gemacht. Die neue Wahlrechtsinitiative „Mehr Demokratie - Ein faires Wahlrecht für Hamburg“ hat deshalb gerade über 15.300 Unterschriften übergeben, um nun im zweiten Anlauf endlich den Willen der Bürger durchzusetzen.

Zu welchen Themen engagieren sich Bürger besonders?

Efler: Unser im Februar veröffentlichter Bürgerbegehrensbericht hat die direkte Demokratie auf kommunaler Ebene seit 1956 untersucht. Themenschwerpunkte sind demnach Öffentliche Sozial- und Bildungseinrichtungen wie Schulen und Bäder sowie Verkehrsprojekte. Aber auch bei den Themen Öffentliche Infrastruktur und Versorgungseinrichtungen und wirtschaftlichen Themen wie dem Bau von Supermärkten und Mobilfunklagen wollen die Bürger mitreden.

Was gehört zur Organisation eines Begehrens?

Efler: Zunächst mal muss man genügend Unterschriften sammeln. Sie brauchen engagierte Menschen, ein Netzwerk aus Verbänden und Initiativen und womöglich Geld. Wir kämpfen dafür, dass solche Begehren künftig auch staatlich unterstützt werden. Weiterhin muss man sich darum kümmern, dass die Medien darüber berichten.

Wie nah steht Ihr Verein den Grünen? Oder ist es ein Zufall, dass Bürgerbegehren oft von dieser Partei ausgehen?

Efler: Mehr Demokratie ist ein überparteilicher Verein. Wir beziehen auch keine Stellung zu einzelnen Parteien. Vielmehr ist es so, dass das Bürgerbegehren häufig eine Mittel der Opposition gegenüber denen ist, die an der Macht sind. Weil die Grünen vielerorts in der Opposition sind, machen sie es sich vielleicht vermehrt zu nutze. Aber auch die CDU, die dem Mittel Bürgerbegehren zunächst ablehnend gegenüberstand, greift inzwischen darauf zurück. Aktuell zum Beispiel in Berlin.

Die freie Wahl gilt als Sinnbild unserer Demokratie. Doch die Wahlen zeigen es. Immer weniger Menschen machen davon Gebrauch. Warum?

Efler: Dafür gibt es viele verschiedene Gründe. Politikverdruss ist sicherlich nur einer. Das Problem an geringer Wahlbeteiligung ist, dass die Parlamente an Legitimation einbüßen.

Dass DIE LINKE jetzt auch in westdeutsche Länderparlamente eingezogen ist, bedeutet das mehr oder weniger Demokratie für uns?

Efler: Ich denke, grundsätzlich ist es eine Bereicherung, dass wir nun fünf Parteien in Hessen und in Hamburg haben. In anderen Nationen gibt es noch mehr in einem Parlament, teilweise bis zu acht Parteien und dort gibt es auch eine stabile Demokratie.

CSU-Politiker bezeichnen die PDS-SED-Nachfolgepartei als altkommunistisch und undemokratisch.

Efler: Wie gesagt, zu einzelnen Parteien nehmen wir keinen Standpunkt ein.

Wie sieht für Deutschland und für Europa die ideale Demokratie aus?

Efler: Ein Kochrezept für die perfekte Demokratie kann auch Mehr Demokratie nicht liefern. Jedes Land muss in Abhängigkeit von seiner Gesellschafts- und Parteienstruktur, der Komplexität seines politischen Systems und so weiter ein eigenes Modell finden. Wir sind aber überzeugt, dass die direkte Demokratie auf allen politischen Ebenen eine wichtige Ergänzung zur repräsentativen Demokratie darstellt. Die Bürger – und zwar auch solche, die sich keiner Partei anschließen wollen – sollten nicht nur alle paar Jahre per Wahl die Politik mitgestalten können, sondern regelmäßig in Sachabstimmungen zu ihrer Meinung befragt werden. Die direkte Demokratie ist auch ein Mittel gegen Resignation, weil sie das Gefühl bekämpft, dass „die da oben“ machen können, was sie wollen. Das Schweizer System ist der beste Beweis: Wer mehr Einfluss hat und gefragt wird, ist auch politisch engagierter und trifft verantwortungsvolle Entscheidungen für das Gemeinwesen.

Vielen Dank für das Gespräch!

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GLOSSAR (Quelle: Mehr Demokratie e.V.)

Direktdemokratische Verfahren = von der Bevölkerung oder per
Ratsbeschluss initiierte Begehren und Abstimmungen zu Sachfragen auf kommunaler
Ebene; Oberbegriff für Bürgerbegehren, Bürgerentscheide, Ratsreferenden
Bürgerbegehren = Willensbekundung der Bürger, dass ein bestimmter Sachverhalt
den Bürgern zur Abstimmung vorgelegt werden soll; muss von einer bestimmten
Anzahl von Wahlberechtigten mit Unterschrift unterstützt werden
1. Stufe: Unterschriftensammlung durch Bürgerinnen und Bürger; danach
Zulässigkeitsprüfung durch Gemeinderat oder Kommunalaufsicht, Terminfestlegung
und Stellungnahme
2. Stufe: Bürgerentscheid
Bürgerentscheid = „von unten“ herbeigeführte Bürgerabstimmung auf kommunaler
Ebene; durch Unterschriftensammlung aus der Bevölkerung heraus initiiert;
Gesamtheit der Stimmberechtigten entscheidet an Stelle des Gemeinderates
verbindlich über eine Sachfrage
Ratsreferendum = „von oben“, also vom Gemeinderat, herbeigeführte
Bürgerabstimmung auf kommunaler Ebene über eine Sachfrage
Abstimmungsquorum = legt fest, dass ein bestimmter Prozentsatz der
Wahlberechtigten sich am Bürgerentscheid beteiligen muss (Beteiligungsquorum)
oder dass ein bestimmter Prozentsatz der Wahlberechtigten einer Vorlage zustimmen
muss (Zustimmungsquorum); d.h. es genügt nicht, wenn die einfache Mehrheit der
Abstimmenden sich für eine Vorlage ausspricht

Weiterführende Links
http://www.mehr-demokratie.de/Mehr Demokratie e.V.
   







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