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Kaffee gibt es immer
WIRTSCHAFT | ENTWICKLUNG IN BRASILIEN (15.08.2007)
Von Carolina Lima
Der Kaffee und das Kaffeehaus spielen eine sehr wichtige Rolle in der europäischen Kultur. Aber auch in der brasilianischen Gesellschaft hatte der Kaffee als Ware große soziale Einflüsse, von der Plantage bis in den Handel. Hinter jeder Packung gibt es eine interessante Geschichte.

Photocase, Benutzer Jamonit

Unfertiger Espresso (c) Photocase, Benutzer Jamonit

So kam der Kaffee in die Historie Europas und Brasiliens nicht nur zur Ernüchterung und Anregung, sondern auch voll von Ideologien und sozialen Funktionen.

Im Deutschland des 18. Jahrhunderts gab es die " Kaffeekränzchen", eine Gruppe von Frauen, die sich jeden Tag oder ein mal pro Woche trafen. Kaffee trinken und sich treffen war die Leidenschaft dieser Frauen. Diese Treffen war die Kompensation der Tatsache, dass Frauen aus vielen Aktivitäten ausgeschlossen waren. Es war eine Art Opposition zur männlichen Kaffeehauskultur und eine Art Kritik an patriarchalischen Strukturen.
Ganz schnell wurde der Kaffee ein Symbol der Gemütlichkeit in der Familie. Deutschland hatte allerdings keine Kolonien und konnte den Bedarf der eigenen Bevölkerung nicht decken. So musste das Land für viel Geld von französischen oder holländischen Kaffeeproduzenten kaufen. Kaffee als Importware genoss einen gewissen Status in der Handels- und Wirtschaftspolitik. Regierungen unternahmen vieles um den Handel zu kontrollieren, beispielsweise Erhöhungen der Preise, spezielle Steuern, Monopole auf das Rösten bis hin zum Verbot des Kaffees.
Um sich davon unabhängig zu machen, arbeiteten die Deutschen fleißig an Ersatzprodukten aus Getreide und Zichorie. Außerdem sollte Bier, das deutsche Getränk par excellence, den Kaffee in seinem sozialen Status ersetzten. Doch obwohl der Kaffee aus Ersatzprodukten deutlich billiger war, ging das Vorhaben, die Bevölkerung vom Kaffeegenuss abzuhalten, gründlich daneben. Aristokratische Familien konnten ihre bessere soziale Stellung dadurch äußern, indem sie echten Kaffee tranken. Danach erreichte der Kaffee auch das Kleinbürgertum. Das war eine Demokratisierung durch das Produkt.

Als der Kaffee nach Brasilien kam, war er in Europa schon eine wertvolle Exportware. Dem Sergeanten Francisco de Melo Palheta wurde 1772 vom Govaneur von Grão Pará aufgetragen, eine Pflanze aus Französisch-Guayana mitzubringen. Von da an wurde Brasilien zum Anbaugebiet für Kaffee.
Doch erst im 19. Jahrhundert wurde Kaffe auch aus Brasilien exportiert. In der Umgebung von Rio de Janeiro boomte die Wirtschaf, in Minas Gerais wegen der Goldminen besonders, so dass es möglich war, die Kaffeeplantagen zu finanzieren. Laut dem brasilianischen Anthropologen Darcy Ribeiro war der Wandel Brasiliens zu einem Agrarexportland
ein entscheidender Effekt des Kaffeeanbaus. Die Kaffeekultur veränderte auch das Wesen der brasilianische Gesellschaft.

Immigranten auf den Kaffeeplantagen

Wie auf den Zuckerrohrplantagen kam die Arbeitskraft zunächst aus der Sklaverei. Aber die Arbeit mit dem Zuckerrohr unterschied sich von der mit dem Kaffee: sie erforderte vor allem Kraft und die Arbeiter brauchten keine besonderen Qualifikationen; der ganze Handelsprozess wurde über Holländer abgewickelt. Beim Kaffee hingegen war Spezialisierung gefragt. Und während beim Zuckerrohr die Vermarktung durch holländische Händler stattfand, wurde sie beim Kaffee durch Brasilianer realisiert. Aber die Sklaverei war den brasilianischen Unternehmern zu teuer. Europäer wurden mehr und mehr als zukünftige Arbeiter gesehen, so dass Immigranten auf den Kaffeeplantagen eingesetzt wurden. Die Auswanderer Europas wurden so in die brasilianische Gesellschaft integriert.
Um diese Integration zu verstehen, muss man den brasilianischen Bevölkerungsmix aus Indios, Kolonialherren, Sklaven und Einwanderern begreifen. Bereits vor der portugiesischen Kolonisierung existierte ethnische Vielfalt. Im Jahr 1500 bildeten rund eine Million Indianer der Tupi und Jê eine ethnischen Matrix. Es folgten die Mazombos-Portugiesen, geboren in Brasilien. Es verbanden sich auch Indianer und Weiße, die Caboclos. Afrikaner kamen als Sklaven und verbreiteten zusätzlich die portugiesische Sprache. Aus der Mischung zwischen ihnen und den Europäern entstanden die Mulato. Von den eingeborenen Indianern und den Afrikanern stammen die Curibocas ab.

Mit der europäischen Einwanderungswelle kamen später insgesamt fünf Millionen Einwanderer: 1,7 Millionen Portugiesen, 1,6 Millionen Italiener, 700.000 Spanier, 250.000 Deutsche, 230.000 Japaner. Die Europäer verließen ihren Kontinent, weil es dort an Arbeitsplätzen mangelte. Der neue industrielle Kapitalismus (Industrialisierung) konnte keine neuen schaffen und es gab Kriege. Von 1886 bis 1930 kamen Italiener wegen der Arbeitsplätze auf die Kaffeeplantagen. Diese Immigranten beeinflussten die Abschaffung der Sklaverei (1888). Die Europäer in Brasilien waren gegen die Sklaverei und wollten faire Arbeitsbedingungen für alle Menschen. Die wichtigsten Folgen dieser sozialen Änderung durch den Kaffeeanbau sind: zum einen die Industrialisierung São Paulos, die durch die Finanzierung durch die zweite Generation der italienischen Immigranten bewerkstelligt werden konnte, und zum anderen die verspätete Politisierung der brasilianischen Landarbeiter, da viele Immigranten nur mit der Elite zusammenarbeiteten.

Der Anfang der Favelas

Für viele ehemalige Sklaven verbesserten sich die Lebensbedingungen trotzdem nicht. Sie hatten nicht nur keinen Job, sondern auch kein Haus und kaum genug Essen. Sie besetzten die Randgebiete der brasilianischen Großstädte und es entstanden Siedlungen - die Favelas.
Ein Favela in meiner Stadt Belo Horizonte heißt Cafezal: dieses Wort bedeut Kaffeeplantage. Auch dort trinken die Menschen Kaffee. Wer in Cafezal ein Haus besucht, bekommt als Zeichen der Gastfreundschaft Kaffee kostenlos. Es ist egal, ob die Bewohner etwas zu essen haben, Kaffee gibt es immer.


Zusatz: Meistens, wenn man Kaffee trinkt, denkt man nicht daran, dass es so viele Geschichten im Hintergrund gibt. Und es ist einem nicht bewusst, dass die Arbeiter auf den Kaffeeplantagen so wenig Geld bekommen, während einige wenige Unternehmen davon profitieren. Brasilien ist der größte Kaffeexporteur der Welt. Wem gehört dieser Reichtum?
Um diese Problem zu diskutieren, habe ich ein Kunstwerk gemacht. Ich war in Weimar zwei Wochen auf dem Theaterplatz - als Kaffee, weil für mich jeder Brasilianer Kaffee ist. Ich habe mit Passanten gesprochen und Gutscheine für Kaffee verschenkt. In dem Projekt "Wir trinken gern Kaffee - gerníssimo" möchte ich die Idee des brasilianischen "cafezinho grátis" (ein kleiner Kaffee kostenlos) anbieten. Es dient als Medium, zur Kommunikation mit den Passanten über die soziale Rolle des Kaffees und über die Struktur der Macht hinter dem Kaffee als Ware zu sprechen. Mich interessiert, wie der Mensch die Welt sieht und ich möchte wissen, was er zu sagen hat. Das Potential der Kommunikation in öffentlichen Raum ist für mich eine sehr wichtige Aufgabe der Künstler. Dazu beziehe ich meine persönliche kulturelle Identität und die deutsche lokale kulturelle Identität ein. Die Mehrzahl der Teilnehmer zeigte einen großen Sinn für Verantwortung, hatte viele Ideen und ist sich ihrem Potential zur Veränderung der Gesellschaft bewusst.
   







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