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Uhrmacher
KULTUR | BUCHAUSZUG (28.10.2011)
Von Andy Strauß
Die monatliche Anzahl krummgefickter Kerzen war stets ein Gradmesser für Rosemarie Weinkes Befinden.

»Herr Schmit?«, fragte von einem Seufzen begleitet die wohl raueste Frauenstimme, die jemals durch den Telefonhörer an den Uhrmacher drang. Voller Argwohn blickt der Uhrmacher in die Hörmuschel, hoffend, er könne die Person am anderen Ende durch sie erspähen. Da dies aber nicht möglich ist, antwortet er knapp: »Es heißt Mr. Smith, Madame«. Dann legt er zornig auf.

Daran, die Arbeit wieder aufzunehmen, war nun vorerst nicht mehr zu denken, und so blieb Mr. Smith einfach für mehrere Minuten neben dem Sekretär stehen und befühlte die handwerkliche Höchstleistung, von der des Möbels makellose Schellackpolitur zeugte. Der Umstand, dass eine ihm unbekannte Person so mir nichts dir nichts in seine Privatsphäre eingedrungen war, lies ihm das Blut in den Adern kochen, was vornehmlich am Zittern seines schwachen Beines zu erkennen war, welches er zu unterdrücken versuchte. Zwar spielte sein Aussehen ihm selbst gegenüber keine Rolle, doch war es ihm trotzdem unangenehm, Schwäche zu zeigen, egal in welcher Situation.
Wer schwach ist, bricht ein, hallte ihm die Stimme seines Onkels, ebenfalls Uhrmacher, im Kopf nach und so gab er alles daran, zu seiner üblichen Contenance zurückzufinden. Gerade als der Zorn sich in Neugierde gegenüber der Anruferin gewandelt hatte, ertönte das Telefon erneut. Noch bevor das erste, mechanische Läuten verhallt war, lauschte Mr. Smith bereits der Person am anderen Ende.

»Mr. Smith?«, fragte dieselbe Stimme wie zuvor, dieses Mal gefestigter.
»Bitte, mit wem habe ich das zweifelhafte Vergnügen, zu so vorangeschrittener Zeit Zwiegespräch führen zu müssen?«
»Mein Name ist Rosemarie Weinke. Sie kennen mich nicht, doch ist Ihnen ihr Ruf als herausragender Handwerker vorausgeeilt.«
»Und mein vorauseilender Ruf ist ihnen Berechtigung genug, einen derart abwegigen Zeitpunkt der Kontaktaufnahme zu erwählen?«, fragte Mr. Smith und konnte eine gewisse, schnippische Art gepaart mit nahezu neckischer Freude am gepflegten Streitgespräch in seiner Stimme nicht verbergen.
»Nun, als abwegig würde ich diesen Zeitpunkt in unserem Falle nicht bezeichnen, sind wir doch beide Menschen, die die Nacht dem Tag vorziehen.«
»Hören Sie Madame, ich habe noch viel zu tun, bitte kommen Sie jetzt zum Punkt.«

Die Tatsache, dass eine fremde Person Einschätzungen über ihn und seinen Tagesablauf anstellte, behagte ihm nicht.

»Gut denn, Mr. Smith, ich werde mich kurz fassen. Seit Wochen schon liegt mir mein Gärtner damit in den Ohren, dass der Motor des benzinbetriebenen Rasenmähers nicht mehr funktioniere und er deshalb auf die kräftezehrende, mechanische Alternative ausweichen müsse, was seinen Tagesablauf erheblich beeinträchtige und er kaum mehr dazu komme, das Heckenlabyrinth zu bestellen.«
»Dann senden Sie doch jemanden aus, der einen neuen Rasenmäher erwirbt«, bestach der Uhrmacher mit glasklarer Logik. Es erfreute ihn, mit einer wohl etwas dümmlichen Person Konversation zu treiben, so einfältig, dass ihr dieser sehr naheliegende Schluss nicht selbst in den Sinn gekommen war.

»Aber aber, Mr. Smith, ich bitte Sie«, fuhr seine Gesprächspartnerin fort, während eine Welle der Kränkung das Wasser ihres Redeflusses aufwarf. »Sie werden mir nicht widersprechen können, wenn ich Ihnen sage, dass ich eben das nicht möchte. Wo kämen wir denn da hin, wenn jedes Gerät mit einem kleinen Defekt sofort entsorgt werden würde, ohne dass dessen Reparatur jemals in Betracht gezogen wurde? Die Welt wäre ein noch größerer Müllhaufen, als sie ohnehin bereits ist. Außerdem liegt mir eine prahlerische Zurschaustellung meines weltlichen Wohlstandes nicht. Genau wie Sie halte ich diese Art von öffentliche Dekadenz für eine grundlegende Perversion jeglicher Moralvorstellung.«

Wieder hatte sie getan, was Mr. Smith nicht gefiel. Sie hatte sich mit ihm verglichen und es nicht einmal für nötig gehalten, erkennen zu lassen, woher sie Kenntnis von diesen Informationen hatte. Wer war diese Frau? Seine Neugier wuchs ins Unerträgliche, doch einfach zu fragen wäre Mr. Smith niemals in den Sinn gekommen.

»Wenn ein Mensch mit Heckenlabyrinth andeutet, er lehne Dekadenz ab, dann vermag mir das höchstens ein ungläubiges Lächeln in mein Gesicht zu zeichnen. Und auch wenn ein Rasenmäher nicht in mein breites Fachgebiet, welches UHREN ist, fällt, so möchte ich Ihnen dennoch ausnahmsweise meine Hilfe anbieten. Bringen Sie das Gerät bitte morgen um fünfzehn Uhr persönlich vorbei, meine Adresse werden Sie vermutlich kennen.«
»Das, mein lieber Mr. Smith, ist jetzt nicht mehr notwendig. Ich werde gleich morgen jemanden schicken, der einen neuen Rasenmäher kauft, denn da ich die Reparatur des alten Rasenmähers jetzt einmal in Erwägung gezogen habe, ist es nicht mehr schändlich, ihn durch einen neuen zu ersetzen. Dennoch werde ich Ihre Wohnung morgen um fünfzehn Uhr aufsuchen und Sie für ihre Mühen entlohnen. Sie werden sich an meinem Körper bedienen dürfen, wie es Ihnen beliebt.«

Mit einem leisen Klicken in der Leitung endete das Gespräch und Mr. Smith stand so lange tatenlos in seiner Wohnung, bis sich sein Kater kreisend um seine Beine schmiegte. Beherzt trat der Mann zu, bis nichts mehr im Körper des Tieres war, welches für das Bilden einer äußeren Form hätte behilflich sein können. Die monatliche Anzahl zerstörter Katzen war stets ein Gradmesser für Mr. Smiths Befinden.
Verlag

(c) Verlag




Dieser Text ist ein Auszug aus dem neuen Buch von Andy Strauß: "Uhrmacher". Es ist gerade im Unsichtbar-Verlag erschienen.
Es hat 160 Seiten und kostet 9,99 Euro.
ISBN: 978-3-942920-06-3

Weiterführende Links
http://www.establishmensch.de/Homepage von Andy Strauß
   




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