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Zur Temperatur einer Berlinale
KULTUR | BERLINNACHSCHLAG (15.03.2005)
Von Matthias Pietsch
Das Fieber ist zurückgegangen - was weniger an den kalten Temperaturen der letzten Wochen liegt, als vielmehr daran, dass die 55. Berlinale nun der Vergangenheit angehört.

In der Tat - hätte man innerhalb der zweiten Dekade des Februar irgendwo im Großraum von Berlin-Mitte oder ganz und gar zwischen Cinestar und Cinemaxx am Potsdamer Platz ein riesengroßes Fieberthermometer angelegt, so wäre ihm nicht wie durchaus üblich erhöhte Temperatur, sondern ein ordentlich ausgewachsenes Fieber abzulesen gewesen. Die Diagnose: Ekstase mittleren Grades.
Ein Filmfestival, das sich in den letzten zwanzig Jahren vom kaum beachteten Festspiel einer ummauerten und noch dazu nur halben Stadt zu einem international angesehenen Spektakel entwickelt hat, trieb den Puls unzähliger Menschen in die Höhe. Dankbar stürzten sich die Abgesandten der Mediengesellschaften auf das Ereignis, ließ sich hier doch anders als bei den sonst raumgreifenden Themen wie Katastrophen, Kriegsereignisse und Politikaffären ohne gefährliche ethische Fußangeln und Glatteisflächen unverfänglich berichten und uns Konsumenten leichte, vergnügliche Kost darbringen.

Alle, die loszogen, um den einen oder anderen Film im Festivalprogramm zu sehen, kamen entweder schon erhitzt ins Zentrum der Stadt oder wurden spätestens dort von der schwebenden Aufgewühltheit angesteckt. Ähnlich erging es nach einiger Zeit des Eintauchens in die Atmosphäre der Geschehnisse auch mir. Nachdem ich in den vergangenen zwei Jahren, während der ich nun hier wohne, wohlweislich und mit zuweilen verächtlichen Gedanken die infektiösen Orte weiträumig gemieden hatte, wollte ich nun dieses Jahr doch wenigstens einmal den Blutdruck eines Festspielgastes spüren.
Dies geschah dann zum ersten Mal bereits einen Tag vor dem eigentlichen Beginn. Die vierfach gewundene Schlange im Vorraum des Kino "International" überraschte mich noch nicht übermäßig, da mir der gehörige Andrang an den Kartenvorverkaufskassen von Berlinale-Erfahrenen vorausgesagt wurde. Zudem hatte ich das Anfängerglück, durch Bekannte meiner Begleiterin, die schon seit knapp zwei Stunden jede Windung der Schlange mitmachten, gleich hinter dem Kopf selbiger zu landen. Doch nun galt es, sich innerhalb kürzester Zeit einen Überblick in einem etwa hundertseitigen Programmjournal zu verschaffen, einen interessanten Film - oder besser gleich zwei - herauszupicken und dabei einen großen Plan an der Wand zu berücksichtigen, der mit roten Kreuzen zur Markierung der bereits ausverkauften Veranstaltungen übersäht war. Wie ich schnell feststellte, war für mich als Neuling das ganze Prozedere überfordernd. Das heißt, von der Gewinnung eines Überblicks konnte keine Rede sein, als ich zwei Karten für die mehr oder weniger erstbesten Filme kaufte. Heraus kamen dabei ein englischer Film im Rahmen des Wettbewerbsprogramms über die dunklen Seiten der menschlichen Psyche - also eher schwere Kost - und im Rahmen des Programmbereichs "Perspektive Deutsches Kino" der eines Filmstudenten über die Alltagsprobleme eines gestrandeten, um Arbeit und seine zerrissene Familie bemühten Ostberliners; beide aufeinanderfolgend am ersten Berlinalesamstag in verschiedenen Stadtbezirken.

Am späten Samstagnachmittag waren wir zu dritt unterwegs zum ersten Film in Schöneberg. Dort angekommen, erwartete uns ein altehrwürdiges großes Kino, herausgeputzt für einen festlichen Anlass. Die vom Regen durchnässte Garderobe musste abgegeben werden, bevor man auf dem Weg zum Kinosaal ein riesiges Foyer durchquerte, in dem sich - wie sonst nur im Theater oder in der Oper üblich - die vornehmeren Gäste in passender Festmontur bewirten ließen. Die meisten Menschen des trotz dessen durchmischten Publikums gaben sich seriös erfahren und zuweilen gar erhaben, jedoch erfüllten dieselben wenig später vom Schutze ihres Kinositzes aus den Vorführsaal, dessen Größe mittlerweile Seltenheitswert besitzt, mit ihrer ehrlichen Spannung. Ich spürte, dass es sich hier nicht um eine ganz gewöhnliche Kinovorstellung handelte; die Erwartung hinsichtlich eines Films, der gerade erst das Licht der Welt erblickt hat, lag im Raum. Illustriert wurde diese Wahrnehmung durch einen auf der Bühne erscheinenden Mann, der uns per Mikrofon die entschuldigende Bitte des nicht anwesenden Regisseurs nahe brachte, wir mögen uns von den leichten Unregelmäßigkeiten bei den Farbnuancen und dem Ton nicht stören lassen. Dies sei der Tatsache geschuldet, dass die Zeit bis zum Kopieren des Films für die Berlinale zu knapp geworden wäre. Als der Film dann im Originalton mit deutschen Untertiteln lief, musste man sich schon bemühen, irgendetwas von den angekündigten Störungen zu bemerken.
Trotzdem trat ich nach der Vorstellung verstört auf die Straße, wenngleich eher wegen des Filminhalts. Nun gut, dafür war jetzt aber keine Zeit. Wir mussten zurück bis zum Potsdamer Platz, wo der nächste Film in Kürze starten sollte, und da auf jedem Kinoticket "Für Zuspätkommende kein Einlass!" steht, drängte uns die Eile. Dies schien nicht nur uns so zu gehen, denn die U-Bahn war bis auf den letzten Stehplatz voll mit vorwiegend ausländischen Menschenmassen, die sich dann fast alle, in Gedanken ganz woanders, auf den Potsdamer Platz ergossen. Dort liefen noch viel mehr Leute als bereits in Schöneberg - mir kam es vor wie die Hälfte aller - mit irgendwelchen Spezialausweisen herum, die wichtig an ihren Hälsen hingen. In einigen Momenten fühlte man sich wie ein geduldeter Zaungast und zum Beobachter degradiert. Aber auch für solche Empfindlichkeiten war kein Platz in Anbetracht der Hektik, die der Wille auf eine gut funktionierende Festspielorganisation produzierte.
Wieder saßen wir als Spätkommende ganz vorn in einer der ersten Reihen, was in diesem Kino auch ganz unten bedeutete, und hatten so einen guten Blick auf den dicklichen kleinen Mann, der schwitzend die Bühne betrat. Allein im Rampenlicht vor der überdimensionalen Wand des erwartungsvollen Publikums stehend (so musste es ihm wohl erscheinen) begann er, weil die Vorstellung dieses Films nun zum zweiten Mal lief, sich für irgendetwas zu entschuldigen, das in der ersten Vorstellung nicht so richtig geklappt hatte. Indem er dies mit nur mühsam im Zusammenhang stehenden Sätzen hinter sich brachte, wurde mein mitfühlender Puls immer schneller. Das durch das Mikrofon laut vernehmbare, nur noch mit letzter Feuchtigkeit bedeckte Schlucken des Mannes drang mit seiner darunter schwingenden Aufgeregtheit an jedes Ohr in diesem großen Saal, und ich bangte, ob er es denn schaffen würde, das zu sagen, was er sagen zu müssen glaubte.
Es wurde ein sehr erfrischender Film, der, mit einfachen Mitteln und viel Improvisation produziert, die menschlichen, oft hoffnungsvoll träumerischen und lustigen Momente im Mutlosigkeit provozierenden Alltag eines etwa vierzigjährigen Mannes zeigt, der die gesellschaftlichen Veränderungen seit der Wende nicht heil überstanden hatte. Sein plötzlich wieder auftauchender, pubertierender Sohn reißt ihn aus seiner mit Bitterkeit und Naivität angereicherten Stimmung, und wird so für eine Weile sein bester Freund. Euphorisierte Begeisterung am Ende des Films war der Dank des Publikums, das nun auch noch den Regisseur und sämtliche Schauspieler live und in Farbe bewundern konnte. Deren Befragung durch den nun etwas weniger aufgeregten Mann vom Anfang und durch das Publikum förderten zwar noch ein paar kitzlige Momente zutage, die aber der menschlichen Wärme rund um das Spektakel dieses Films entsprachen, so dass wir anschließend zufrieden eine gemütliche Kneipe ansteuerten.

In der zweiten Kinowoche zeigte die Fieberkurve schon deutliche Sättigung und eine sich einstellende Routine an. Es war niveauvoll anregend gewesen, aber auch langsam genug - genug des Geldausgebens, genug von der Wichtigkeit beanspruchenden Glitzerwelt. Daran konnten auch ein durchaus unterhaltsamer Berlinaleempfang, auf den ich zufällig als Begleiter einer Freundin geraten war, und ein ebenso interessantes Kurzfilmprogramm, das wiederum am Potsdamer Platz stattfand, nicht mehr viel ändern. Trotzdem saßen dort überall und vor allem auf den Treppen Menschen, die, einen Laptop auf dem Schoß, ihre neuesten Meldungen formulierten und sie kabellos zwischen den vielen Menschen hindurch in das Internet schickten, um auf diese Weise zu versuchen, gegen das Absinken der Fieberkurve anzukämpfen.
   





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