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Wie es ist, zweimal auszuwandern
GESELLSCHAFT | AUS DEUTSCHLAND NACH VENEZUELA (15.01.2005)
Von Michael Billig
Manfred Kurmis aus Alkersleben im Kreis Arnstadt hat schon oft den Wohnsitz gewechselt. Zweimal ist er auch von einem Land ins andere gezogen. Im Sommer 1989 flüchtete der Thüringer in die BRD. Elf Jahre später wanderte er nach Venezuela aus. Dort arbeitet der gelernte Chemieingenieur heute als Bäcker.

"Ich hatte ein Schreiben vom Wehrkreiskommando im Briefkasten, dass ich jeden Abend zur Verfügung zu stehen habe", erinnert sich Kurmis an das Jahr 1989. In Berlin, Dresden und Leipzig läuteten Demonstrationen das Ende der Deutschen Demokratischen Republik ein. Für den Reservisten bedeutete dieser Einberufungsbefehl, dass es Zeit war, sein Heimatland zu verlassen. "Wenn man erstmal die Uniform trägt und kriegt den Schießbefehl", spricht er einen Gedanken an. Kurmis führt ihn nicht zu Ende. Muss er auch nicht, denn es ist eindeutig, auf was er es damals keinesfalls anlegen wollte: auf friedlich demonstrierende Menschen eventuell schießen zu müssen. "Ist es so oder ist es nicht so?" Auf seine Frage erwartet er keine Antwort. Für ihn ist klar, die Flucht nach Westdeutschland war der richtige Weg. Der Thüringer fuhr ins tschechische Cheb und von dort mit dem Taxi weiter nach Bayern. Er hatte seinen Vater in Arnstadt und seine Arbeitskollegen bei Jenapharm in Erfurt für immer verlassen.

Humboldt trägt die Schuld

Wenige Monate später kam es zur Wiedervereinigung beider deutscher Staaten. Manfred Kurmis hatte bereits eine Wohnung und eine Arbeit in seiner neuen Heimat. "Ein Jahr habe ich im Tiefbau gebuddelt", erzählt er. Doch schon bald kehrte er in seinen gelernten Beruf zurück. Beim Chemieriesen Degussa fand er eine Anstellung als Chemiefacharbeiter. Er lebte in Hanau, hatte ein festes Einkommen und leistete sich erstmals einen Urlaub, der ihn über Europas Grenzen hinaus führte. "Vielleicht ist Alexander von Humboldt schuld", überlegt der 45-jährige. Er sah einen Dokumentarfilm über dessen Forschungsunternehmungen nach Venezuela. Davon inspiriert kaufte sich Kurmis mehrere Reiseführer und begann das südamerikanische Land für sich zu entdecken. Ab 1997 bereiste er es ein- bis zweimal im Jahr. Der Kontakt nach Arnstadt hingegen riss nach dem Tod seines Vaters ab.

2000 fasste Manfred Kurmis den Entschluss, Deutschland endgültig den Rücken zu kehren. Er kündigte seine Arbeit, löste die Wohnung auf und ging mit ein paar Ersparnissen nach Venezuela. "Ich wollte all die Sicherheiten nicht mehr haben", sagt er und schaut ein wenig so als sei er über sich selbst verblüfft. "Die Leute hier verstehen es, besser zu leben", so Kurmis, den es nach Puerto Colombia ans karibische Meer zog. "Man muss im Leben auch noch mal was ganz anderes machen", begründet er seine Entscheidung. "Ist es so oder ist es nicht so?" Bei ihm ist es so. Die ersten zwei Jahre in Venezuela verbrachte der Thüringer überwiegend am Strand unter Palmen und in seinem kleinen gemieteten Haus in den Bergen. Mit nichts tun, wie er sagt. Bis jemand von ihm mit einer Polaroid-Kamera ein Foto machte und weil er ihn für einen Touristen hielt, als Souvenir verkaufen wollte. Da dachte sich Kurmis: "Das mache ich auch."

Passfotos aus der Bäckerei

Heute hat er eine Digitalkamera. Sie steht auf einem Stativ in seiner Backstube. Vor eine gelbe Wand hat der Hobbyfotograf einen Hocker positioniert. Fünf Jugendliche aus einem Nachbardorf stehen im Eingangsbereich. Sie brauchen Bilder für ihren Schülerausweis. Während er die Kamera ausrichtet, geht der Teig im Ofen auf. Während der Drucker arbeitet, holt Kurmis schnell das fertige Brot heraus. Es ist heiß. Es ist Schweiß treibend. Der Thüringer hat wieder ein Arbeitsleben. Von sechs Uhr morgens bis sechs Uhr abends knetet, formt, fotografiert und verkauft er. In seiner Bäckerei, die er vor einem Jahr mit einem anderen Deutschen aufgemacht hat, gibt es Leinsamen-Brot, Weißbrot, Rosinenbrot, Vanillegipfel, Apfeltaschen und eben Passbilder.

"Wenn Du lange genug hier bist, erlebst Du im Prinzip auch nichts anderes mehr", bemerkt Manfred Kurmis. Er hat wieder einen Alltag. Dazu gehören auch die Freude mit seiner Entenzucht und der Ärger mit seinem Geschäftspartner, was zur Trennung führte. Zurück nach Deutschland will und kann er nach eigenem Bekunden nicht mehr. Er hört Touristen sagen, dass dort eine Pleite die andere jagt. "Hier fährt man mit dem Auto oder Moped in die Kneipe, trinkt einige Bier und fährt weiter. Das macht selbst die Polizei so", veranschaulicht er die hiesigen Verhältnisse und fragt: "Wie soll ich da in Deutschland wieder Fuß fassen?" Für ihn unvorstellbar, hätte er hinzufügen können. Stattdessen: "Ist es so oder ist es nicht so?"
   









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