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Der erste Tag im goldenen Westen
REISE | AUSLFUG (15.11.2007)
Von Michael Billig
Zwölf Jahre musste der DDR-Bürger im Durchschnitt auf seinen Trabant warten. Bei uns war es etwas weniger, weil mein Vater uns einen aus zweiter Hand organisiert hatte. Der Westen hingegen musste 40 Jahre warten, ehe sich eine „Rennpappe“ in seine Richtung bewegte. Ab dem 9. November 1989 waren es dafür aber richtig viele.

Die Billigs

...aus dem Familienalbum (c) Die Billigs

In einem grünen Trabant Kombi saßen wir - meine Eltern, mein Bruder und ich. Drei Tage nach der Grenzöffnung haben wir uns in frühmorgendlicher Dunkelheit auf den Weg gemacht, um den gefallenen „Eisernen Vorhang“ und was sich dahinter befindet, endlich zu entdecken. Der 9. November 1989 war ein Donnerstag. Ich war damals elf Jahre alt. Über die DDR-Nachrichtensendung „Aktuelle Kamera“ verbreitete sich die Botschaft, dass die Grenze geöffnet werde, die Berliner Mauer noch an diesem Abend. Die Menschen sprachen von nichts anderem mehr. Zuhause, auf der Straße, in der Schule. Sonntags sind wir dann rüber, mit unserem kleinen grünen Trabi Kombi von meiner Heimatstadt Weimar nach Kassel.

Unsere Tour führte uns über Autobahn 4 bis zur Wartburgstadt Eisenach. Es war das erste Mal für meine Eltern, dass sie über die Abfahrt „Eisenach-West“ hinaus durften. Dort hatte für DDR-Bürger bisher immer die Welt geendet. Diesmal fand da einfach „nur“ eine Passkontrolle statt. Wer rüber wollte, brauchte ein Visum. Das hatte mein Vater zwei Tage zuvor bei der Volkspolizei in Weimar besorgt. Drei Reihen Menschen von jeweils rund 150 Metern Länge sollen da gestanden haben, aus dem Polizeigebäude heraus und um die Straßenecke herum.

Die DDR-Grenzer erledigten ihre Aufgabe mit stoischer ernster Miene. Doch mit jedem Auto, dass an ihnen vorbei fuhr, rückte der Zusammenschluss beider Staaten ein Stück näher. Der Bundesgrenzschutz hat uns gar nicht mehr kontrolliert. Wir wurden einfach durchgewunken. Jetzt waren wir drüben. Johanniter, Rotes Kreuz und Technisches Hilfswerk hatten hier mit Decken, Suppen und heißen Getränken Stellung bezogen. Das sollte sich auf der Rückfahrt noch als wahrer Segen erweisen. Denn es war regnerischer und kalter Tag, an dem wir das Staatsgebiet des Klassenfeindes erreichten. Wir waren nicht die Ersten, aber wie ein Blick durch die Heckscheibe verriet, auch nicht die Letzten.
Wie eine Ameisenstraße rollten Lada, Skoda, Wartburg und Trabant über die Landstraße und zogen die Blicke und ein ständiges Winken der Einheimischen auf sich. Schaulustige Westdeutsche bekamen endlich mal Ostdeutsche zu Gesicht. Und Ostdeutsche das gelobte Land aus dem die Pakete mit Kaffee und Schokolade stammen. Naja, nicht jeder hatte Verwandtschaft auf der anderen Seite. Umso so größer aber die Sehnsucht nach dem, was „Westpakete“ alles beinhalteten. Eine Vorstellung davon verbreitete das „Westfernsehen“. Made in West-Germany hieß es auf Match-Box-Autos – auch Matcher genannt. Ich habe mal zwei gegen 50 Indianer-Figuren getauscht, alle VEB-„made“.

Geld zur Begrüßung im kapitalistischen Ausland

Auf der Hinfahrt konnte uns nichts und niemand stoppen. Nur kilometerlanger zäh fließender Verkehr verzögerte das Unvermeidliche. Stoßstange an Stoßstange ging es weiter westwärts. Und immer wieder Menschen links und rechts der Straße. An einem Fußgängerüberweg kamen wir schließlich doch zum Stehen. Bevor mein Vater wieder Gas geben konnte, klopften Anwohner an die Scheibe, um uns Schokolade ins Auto reichen. Das war sehr herzlich und mir und meinem jüngeren Bruder eine süße Freude. Mein Vater begeisterte sich eher an der Leuchtreklame der vielen verschiedenen Tankstellen.
Als wir nach drei Stunden über Autobahn und Bundesstraße Kassel erreicht hatten, war es neun Uhr morgens. Alle Läden noch dicht. Außer einem Zeitungskiosk. Mein Vater kaufte sich dort die größte deutsche Boulevard-Zeitung, die in großen Lettern verkündete: „Ganz Deutschland feiert.“ Klingt nach der Fußball-Weltmeisterschaft im eigenen Land. Gemeint aber war die Öffnung der Grenzen. Wegen der Überschrift hat er, sagt mein Vater, hatte das Blatt überhaupt erst gekauft - und bewahrt es heute noch auf.
Vom Zeitungskiosk führte uns unser Weg dorthin, wo es Bares gab. Jeder Bürger der DDR wurde mit 100 Mark „Begrüßungsgeld“ empfangen. Das hieß wirklich so und ist für mich eine Erklärung, warum mehr Ostdeutsche den Westen gesehen haben als umgekehrt. Bedauerlich. Aber daran dachte in diesem Moment niemand. Wir haben uns die Beine in den Bauch gestanden, vor allem meine arme Mutter, die erst wenige Tage vorher nach einer OP aus dem Krankenhaus entlassen worden war. Aber hundert Westmark pro Nase. Wer seine Nase mal in einen Intershop (eine Art Kolonialwarenladen in der DDR, in dem nur Produkte aus dem westeuropäischen Ausland angeboten wurden) gehalten hatte, wusste, welchen Genuss so viel Westgeld bedeuten würde.

Hunderte Menschen waren bei der Ausgabestelle für das Begrüßungsgeld, die meisten wie wir aus Thüringen, damals die Bezirke Erfurt, Gera und Suhl. Mein Vater hat ihre Herkunft an den Auto-Kennzeichen erkannt. Nach Stunden des Wartens war es endlich soweit: 400 Mark, waschechtes Westgeld gingen in unsere Hände über, genauer gesagt, in die meines Vaters. Er hat sie dann auch ziemlich streng verwaltet. Die meisten DDR-Bürger hat man später in der Kasseler Innenstadt wieder gesehen. Wir haben sie daran erkannt, dass sie die größten und vollsten Einkaufstüten mit sich herum trugen. Später bezeichnen Kritiker die Wende als Bananenrevolution, so als sei das neben Reisefreiheit alles gewesen, was Millionen Demonstranten wollten. Waren es dann die Westdeutschen, die mehr wollten?
Mein erster Gang in einen Supermarkt lief ungefähr so ab: Es roch noch süßlicher als im Intershop, es war noch viel bunter und gab noch viel mehr zu kaufen. Ich wusste gar nicht, wohin ich als erstes gucken sollte, weiß es heute aber manchmal auch nicht. Ich hielt mich an den Süßwaren fest, holte irgendetwas. Mein Mutter sagt mir, dass es eine Stange Kaubonbons gewesen sein soll. Vielleicht MAOAM, das ich aus der Werbung kannte („Was wollt ihr denn?“)
Später haben sich mein Bruder und ich noch an den Schaufenstern von Spielzeugläden die Nasen platt gedrückt. Mein Vater, der Frühaufsteher, kaufte sich einen Radiowecker. Ich bekam eine Pommes mit Mayo aus der Tüte, die erste in meinem Leben.
   



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