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In der Wildnis vergessen
REISE | ABENTEUER ALASKA (09.12.2015)
Von Eva Vogel*
Unsere Reise in die Brooks Range, die zweitgrößte Bergkette Alaskas, verlief nicht wie geplant. Wir wussten nicht, ob wir da jemals wieder herauskommen würden.

Dies ist der wohl längste und spannendste Reisebericht, den ich je verfasst habe - und womöglich verfassen werde. Unser Urlaub war nicht nur eine Reise. Er wurde zu einem wahren Abenteuer. Für den einen Leser ist es vielleicht eine spannende Geschichte - für einen anderen ein Grund, eine Reise oder Wanderung etwas sorgfältiger zu planen. So jedenfalls werde ich es in Zukunft handhaben.
Mein Freund und ich sind im Urlaub meist unterwegs mit Wanderrucksack, Zelt und allem, was man so braucht für ein bis zwei Wochen "draußen". Wir beide lieben die Einsamkeit und die karge Landschaft der Tundra des Nordens sowie die langen Tage des Sommers in den Polarregionen.
Seit drei Jahren sind wir zusammen unterwegs. Jedes Jahr geht es für drei Wochen irgendwo in die Wildnis. 2013 nach Island: Laugar Vegur, Fimmvörðuháls und Hornstrandir. 2014 Norwegen und Schweden (neun Tage Pandjelanta - Sarek Durchquerung).
Wir glaubten uns fit genug für Alaska und hatten Bock auf die totale Wildnis.
Es waren sicher auch einige Fehler unsererseits dabei, die uns in die missliche Lage geführt haben, von der ich hier berichten werde. Unser Urlaub in Alaska ist für uns zu einem Abenteuer geworden, wie wir es wohl nur einmal im Leben erleben werden. Unsere Reise in die Brooks Range verlief nicht wie geplant - sechs Tage, fünf Nächte. Sie dauerte zwölf Tage, davon sechs ungeplante, an denen wir nicht wussten, ob und wie wir da wieder heraus kommen.

Für den Einstieg fuhren wir von der Stadt Fairbanks zum Denali Nationalpark. Da in seinem Herzen der höchste Berg Nordamerikas, der Mount MacKinley (Indianisch: Denali) thront, ist der Denali ein beliebtes Ausflugsziel von Touristen. Außerdem ermöglicht der Park außerordentliche Begegnungen mit Grizzly-Bären, Karibus, Elchen und Dal-Schafen, eingebettet in eine urtümliche Landschaft aus polychromen Bergen und breiten Flusstälern.
Für uns, so dachte ich, sei der Denali geeignet, um einen Eindruck von der Landschaft zu bekommen, außerdem zum Wandern im Bärengebiet, und zwar "in sicheren Verhältnissen", in einem Park, aus dem man schnell und einfach wieder heraus findet.
Letztlich war dies eine gute Entscheidung. Wir stellten fest, dass es wesentlich schwieriger war, als wir es von Skandinavien kannten, gute, offene (wegen der Bären meidet man Stellen mit dichter Vegetation) Stellen zum Zelten zu finden (weiter Blick, nah am Wasser), man aufgrund der Vegetation erheblich schlechter vorankommt (von kniehoch bis Wald, wir schafften kaum fünf Meilen am Tag) und die Karten, die man bekommen kann, deutlich älter und ungenauer sind als Wanderkarten in Skandinavien (Bachläufe fehlen zum Teil, die Baumgrenze ist Interpretationssache).
Kurz gesagt: Wir verbrachten drei Tage im Park und merkten, dass wir die geplante Route nicht schaffen würden. Einmal verliefen wir uns und wurden dabei vom Schnee überrascht. Aufgrund dessen wurde es leider absehbar, dass die Tour - so wie wir sie geplant hatten - länger dauern würde. Ich hatte meine Schwester angewiesen, dass sie die Ranger alarmieren sollte, falls ich mich bis zu einem gewissen Datum nicht zurück gemeldet hatte. Da wir keinen Alarm auslösen wollten brachen wir ab, liefen zur Straße zurück und fuhren zurück zum Pine Ridge Camp Ground, wo es auch erst einmal zwei Tage regnete.
Ich ärgerte mich darüber, dass wir aufgrund der Absprachen mit meiner Schwester abbrechen mussten. Und so nahm ich diese Sicherheitsmaßnahme bei der zweiten Tour nicht vor. Leider!
Autorin

Im Denali Nationalpark vom Schnee überrascht (c) Autorin


Ein erster Eindruck war gewonnen. Zurück in Fairbanks planten wir zusammen mit dem Besitzer unserer Unterkunft namens Sven's Basecamp - eben jenem Sven - eine Tour in den Gates of the Arctic Nationalpark. Dieser Park ist der entlegenste Nationalpark Alaskas. Es gibt keine Wanderwege oder für den Tourismus erschlossene Gebiete. Einzig der Dalton Highway führt östlich am Park vorbei. Einige Indianerdörfer sind per Flugzeug zu erreichen.
Sven empfahl uns eine Wanderung zu den Arrigetch Peaks, deren markante Bergspitzen ein atemberaubendes Panorama bieten sollten. Geplant wurde die Landung am Circle Lake, Wanderung und anschließende Abholung durch das Wasserflugzeug am Takahula Lake. Die Tour sah machbar aus und eine andere Idee gab es nicht. Also: gesagt, getan. Wir organisierten Karten und Sven buchte uns die erforderlichen Flüge.
In einem Linienflugzeug ging es zunächst nach Bettles, eine kleine Siedlung am Koyokuk River. Vielleicht 15 Personen hatten in dem Flieger Platz. Wir waren die einzigen Touris. Die Landschaft unter uns war atemberaubend schön und - für deutsche Verhältnisse - menschenleer. Wälder, Bergkuppen, bunt gesprenkelte Tundra, Seen, Sümpfe, in weichen Schleifen verlaufende und die Sonne spiegelnde Flüsse. Sonst nichts. Manchmal könnte man aus dem Flugzeug Bären beim Jagen beobachten, verriet mir eine junge Indianerin, die neben mir saß. Ich starrte gebannt aus meinem Fenster. Leider erfolglos - keine Bären in Sicht.
Nach der etwas einschüchternden Erfahrung dieser unglaublichen Weite hatte ich noch eine kleine Hoffnung, in der Ranger-Station in Bettles einen Funksender leihen zu können - so kannte ich es von Neuseeland. Fehlanzeige: Wir bekamen von der Rangerin in Bettles nur zwei etwa spültuchgroße, orangerote Tücher, die wir in Notfällen in eine Linie legen sollten. Es kämen genug Flugzeuge über und man würde uns so entdecken, so die Auskunft. Ein Spiegel wäre auch noch gut, um Lichtsignale zu geben. Nun gut.
Autorin

Abflug ins Abenteuer: Die Landschaft ist atemberaubend schön - und unendlich weit. (c) Autorin


Doch wir änderten hier noch kurzerhand unseren Plan auf Ankunft und Abholung am Takahula Lake. So würden wir zwar nicht ganz hinauf zu den Peaks kommen, aufgrund der Erfahrung im Denali war uns das aber sicherer, den Rückweg findet man gewiss. Eine weise Entscheidung.
Unser Plan stand: Sonntag, 14. Juni: Abflug von Bettles zum Takahula Lake. Am Freitag, den 19. Juni: Abholung vom Takahula Lake, morgens um 10 Uhr. Sollten wir nicht da sein, käme das Flugzeug abends noch einmal. Sollten wir dann noch nicht da sein, käme es am nächsten Morgen um 10 Uhr. Wären wir jetzt noch nicht da, dann würde die Fluggesellschaft die Ranger alarmieren und diese die Hubschrauber losschicken, uns suchen. So war es ausgemacht.

Unser Flugzeug war ein kleiner, etwas klappriger gelb-blauer Viersitzer, wobei die Sitze für meinen Freund und mich erst noch eingebaut werden mussten. Der Pilot hatten noch einen Freund dabei, weswegen er uns herzlich wenig Beachtung schenkte.
Bei strahlendem Sonnenschein starteten wir in Bettles. Weiter ging es tief ins Herz der Wildnis, auf in unser - unfreiwillig - größtes Abenteuer.

Wir landeten abends um 17 Uhr am Takahula Lake. Der See war am Fuß eines Berges gelegen und hatte an unserer Anlandestelle einen kleinen Sand-Kiesstrand. Die Sonne brannte mit schätzungsweise 27 Grad auf uns herab. Wir schafften schnell unsere Rucksäcke ans Ufer. Das Flugzeug wendete und setzte zum Abflug an. Mich überkam kurz der Drang, ihm hinterher zu laufen: dass es uns doch bitte wieder mitnimmt. Dann war es fort - das Motorengeräusch verklang - und uns umhüllte die Stille der Wildnis.
Da rund um den See überall dichter Wald oder Sumpflandschaft war und die Gegend entsprechend als Zeltplatz schlecht geeignet, wollten wir noch am selben Abend versuchen, höher gelegene Gebiete ohne Bäume zu erreichen. Nach einer Stunde am Strand, in der ich Bären- und mein Freund Wolfsspuren entdeckte, schulterten wir unsere 20-Kilo-Rucksäcke und zogen los.
Doch so einfach, wie erhofft, ging das nicht: Das Wandern war wirklich sehr anstrengend! Zwar konnten wir streckenweise ganz gut laufen, dann aber ging es steile Hänge hoch und runter oder aber der Wald war so dicht, dass wir kaum durchkamen. Pausen waren eine Qual, da gefühlt etwa eine Millionen Mücken uns als willkommene Mahlzeit ansahen.
Autorin

Wir waren nicht allein... (c) Autorin


An diesem ersten Tag ist einiges so richtig schief gelaufen. Dazu sei gesagt: Ich bin Diabetikerin und habe seit einem Jahr eine Insulinpumpe. Die pumpt über einen Katheter Insulin in meinen Körper. Alle drei Tage muss ich den Katheter wechseln. Insgesamt drei Wechselkatheter hatte ich dabei, Insulin für drei Wochen sowie zwei Einmalspritzen für Notfälle. An diesem ersten Tag verlor ich aus Versehen zwei Katheter, die ich mir gesetzt hatte. Katheter, die einmal gesetzt sind, kann man nicht wiederverwenden. Also blieb mir nur noch der, den ich aktuell gesetzt hatte (und den ich wirklich gut festklebte mit Zusatzpflastern) und ein Katheter zum Wechseln. Außerdem ging mitten im Wald auf einmal das Bärspray von meinem Freund los: Die Schutzkappe hatte sich wie auch immer gelöst. Damit hatte er die halbe linke Bauch- und Hüftseite voll mit Pfefferspray, und da kein Wasser in der Nähe war, konnten wir es auch nicht abwaschen.
Wir zelteten schließlich abends um 23 Uhr im Sumpf, der Baumgrenze gefühlt kein Stück näher. Ich hatte einen Sonnenstich.
All das sprach uns ehrlich gesagt nicht sonderlich zu. Durch Wald zu laufen, wo man nichts sieht. Ich hatte in dieser undurchsichtigen Wildnis Angst vor Bären. Und da wir vor lauter Bäumen keine Übersicht gewannen, konnten wir auch die Baumgrenze nicht ausmachen. Ich hatte Angst, auch noch den nächsten Katheter zu verlieren. Mein Freund hatte ziemliche Schmerzen aufgrund des Pfeffersprays, ich aufgrund des Sonnenstichs.
Am nächsten Morgen galt es, eine Entscheidung zu treffen: Mein Freund wollte weiterwandern - ich jedoch nicht. Ich weigerte mich, meine Grenze war erreicht, ich traute mich nicht weiter. Mein Leben hängt an meiner Insulinversorgung - und da war ich nun schlecht ausgerüstet. Ich bestand darauf, zum Takahula Lake zurück zu laufen, dort das Zelt aufzuschlagen und Tagestouren zu machen. Nach einer Stunde harter Verhandlungen setzte ich mich durch.
Ich kann mich nicht erinnern, je so starrsinnig gewesen zu sein. Diese Grenze habe ich zum ersten Mal in meinem Leben erreicht. Im Nachhinein denke ich, dass unser Abgeschnittensein von der Außenwelt - keine Möglichkeit, Hilfe zu holen - mir wirklich Angst gemacht hat. Das hatte ich unterschätzt. In Schweden war das kein Problem: Im Sarek gibt es ja ein Telefon in der Parkmitte. Und in Hornstrandir fanden wir hier und da Ferienhäuser, die besucht waren.
Doch wer sollte in diesem Wald per Zufall unsere orangeroten Spültücher finden? Der Ratschlag der Rangerin schien mir lächerlich!
Der Rückweg ging erstaunlich schnell: Wir fanden eine offene Stelle (im Sumpf), schlugen unser Zelt auf und verbrachten nun die Tage Montag bis Freitag damit, viele kleine Wanderungen rund um den See zu machen. Schön waren eine Begegnung mit einem neugierigen Elch, der uns eine geschlagene Stunde beobachtete, heulende Wölfe in der Nacht sowie der Gesang von zwei arktischen Tauchern.
Den dritten Tag liefen wir zu einer Hütte, die wir am anderen Ende des Sees durch mein Fernglas entdeckt hatten. Die Tür war verriegelt, das Gelände von einem Stromzaun umgeben und ziemlich viele Schilder wiesen darauf hin, dass Fremde nicht erwünscht waren. Kanus und mehrere dauerhaft aufgestellte Zelte waren vor Ort, ordentlich vertäut und abgeriegelt.

Am Freitag packten wir dann unsere Sachen und warteten auf das Flugzeug. Und warteten. Und warteten. Ich warf meine Angel aus, machte mindestens drei Lagerfeuer am Strand und flocht eine Schnur aus Strandgras. Hauptsache etwas machen, nicht nachdenken. Doch das Flugzeug sollte nicht kommen. Um 18 Uhr abends zog ein Gewitter auf, wir bauten das Zelt wieder auf und gingen (ohne Abendessen) ins Zelt. Uns bliebt noch Essen für zwei Tage. Ich dachte stundenlang darüber nach, was der Grund für das Ausbleiben des Flugzeugs sein könnte...ein Fehler in den Absprachen, ein falsches Datum... doch ich fand keinen. Vielleicht wäre ja das Flugzeug kaputt... Letztlich brauchten wir einen Plan, falls das Flugzeug auch am kommenden Tag nicht käme. Und so planten wir und schliefen ein.
Das Flugzeug kam nicht. Um 11 Uhr begannen wir, am Strand aus Steinen ein großes HELP zu bauen. Ich machte aus allen roten Sachen, die wir hatten, Isomatte, Schlafsack, T-Shirts, eine lange rote Linie. Mit einer Rettungsdecke versuchten wir einem überfliegenden Flugzeug Lichtsignale zu geben. Keine Chance.
Um 14 Uhr machte sich mein Freund alleine auf den Weg zur Hütte auf der anderen Seite des Sees. Ich beobachtete ihn dabei mit dem Fernglas, aufgrund der Entfernung sah ich aber nicht viel. Letztlich organisierte er ein Kanu, wir schafften unsere Habe hinüber zur Hütte und brachen schließlich die beiden Riegel auf. Es war toll!! Nach den ersten Blicken war uns klar, dass Essen nun kein Problem mehr sein würde. Es gab Konserven mit Früchten, Bohnen, Nudeln, Würstchen, Nüsse, Kaffee und alles, was man sich wünscht. Da wir an diesem Tag beide maximal etwa 30 Gramm Müsli gegessen hatten, sonst nichts, fielen wir erst einmal über die Konserven her.
Für mich rückte hier jedoch ein anderes Problem in den Vordergrund, nämlich meine bescheidenen Insulinvorräte. Ich errechnete mir eine Lebensdauer von zwei bis drei Wochen - sofern die Katheter funktionierten und alles gut lief. Um diese Spanne zu vergrößern, entschloss ich mich, nun auf Kohlenhydrate zu verzichten, um Insulin zu sparen. Meine Diät in den nächsten Tagen bestand aus Tomatensauce, Bohnen, ekeligen abgelaufenen Würstchenkonserven, Salami, Nüssen, Olivenöl und ein bisschen Erdnussbutter.
Ehrlich gesagt hatte ich Angst. Angst sitzt im Bauch und entsprechend hatte ich auch kaum Appetit. Ich aß sehr wenig.

Dennoch: Wir hatten ein richtiges Bett, es gab Wände zwischen mir und den Bären, einen funktionierenden Gasherd und eine Hütte voll mit Sachen, die möglicherweise helfen könnten. Und so durchsuchten wir jede Schublade, jeden Schrank, jedes Regal. Wir hofften vor allem auf ein Satellitentelefon oder Signalpistolen: Wir fanden ein Funkgerät und Angler-Rauchsignale, davon insgesamt drei Stück. Wir versuchten zu funken - es waren sogar Frequenzen auf den Gerät verzeichnet - bekamen aber keine Antwort und bezweifelten beide die Fähigkeit des Geräts, das 45 Flugminuten entfernte Bettles zu erreichen.
An diesem Tag wäre unser Rückflug von Bettles nach Fairbank gegangen. Unser Nicht-Erscheinen schien keine Rettungsaktion auf den Plan gerufen zu haben. Offenbar blieben oft deutsche Touris einfach so in der Wildnis und kamen nicht zu ihrem Flug. Kein Grund zur Sorge...
Am nächsten Tag, Sonntag, bastelten wir aus weißen und braunen Planen zwei riesige HELP-Schilder, die wir am Strand mit Steinen beschwert gen Himmel ausrichteten. Ich kam mir vor wie in Cast away.
Autorin

Takahula Lake (c) Autorin


Abends machten wir uns mit einem Kanu auf den Weg, den Ausfluss vom Takahula Lake zu erkunden. Warten auf Hilfe war aufgrund meiner schwindenden Insulin-Vorräte keine Option. Ich hatte zum Glück eine Übersichtskarte vom Gates Park dabei, Maßstab 1:250.000 mit Höhenlinien im Abstand von 100 Metern. Keine gute Grundlage für Wanderungen, aber besser als Nichts. Wir fanden im Nachbartal zum Fluss Alatna flussabwärts eine Lodge an einem See namens Iniakuk Lake verzeichnet, am Fuß eines Berges namens Mount Hal Weight.
Der Weg war klar: Mit dem Kanu vom Takahula Lake in den Takahula River, von da in den Alatna und dann flussabwärts: anlegen und Boot verstauen und zu Fuß über einen Pass ins benachbarte Tal zur Lodge. Eine entsprechende Information über unsere Pläne hatten wir bei den HELP-Schildern und in der Hütte platziert.Wir packten, und ich präparierte meine Insulinpumpe mit Panzertape, um sie möglichst wasserdicht zu machen.
Einige Unsicherheiten blieben: Die Karte war von 2007. Wurde die Lodge noch betrieben? Außerdem war Mückenzeit: War überhaupt schon jemand da? Wir beide hatten die Lodge auf dem Hinflug gesehen. Würden wir es zurückschaffen, wenn nötig? Doch sitzen und warten war unerträglich. Also los.
Es war großartig, die Landschaft vom Wasser aus zu sehen. Das Paddeln forderte mich heraus und hat mir Spaß gemacht. An allen Sandbänken, wo wir anlegten, waren Tierspuren zu sehen, die ich nur zu gern bestimmt hätte (unter anderen Voraussetzungen).
Ich steuerte das Kanu, da ich in darin erfahrener bin als mein Freund. Der Takahula River schlängelte sich in engen Kurven durch das Flusstal. Die Strömung war an einigen Stellen recht stark, aber alles ging gut. Doch wir wussten nicht, was uns mit dem Alatna erwartet. Und so paddelten wir nach etwa drei Stunden sehr vorsichtig hinein: Der Alatna ist etwas breiter als der Main, sandig und undurchsichtig mit einer sehr ruhigen Strömung. Oftmals gab es Sandbänke an den Innenkanten der Mäander, die wir aber gut sahen und meist umfuhren. Manchmal strandeten wir, dann stieg ich aus und brachte das Kanu wieder in tiefes Fahrwasser.
Es war einzigartig, auf so einem unberührten breiten Fluss zu fahren; zu erfahren, wie ein Fluss verläuft, wenn er weder begradigt noch ausgebaggert noch mit Buhnen befestigt ist. Dennoch wurde ich den Gedanken nicht los, dass dies ein "One way ticket" war, und dass der Weg zur Hütte zurück unmöglich zu schaffen wäre. Und sagt man nicht immer, man soll - ist man in Not - da bleiben, wo man ist und auf Hilfe warten? Und was machten wir da? So ungefähr genau das Gegenteil. Doch: Wir hatten auch den ganzen Tag kein einziges Flugzeug gesehen... an der Hütte bleiben hätte uns also auch nicht gerettet.
Autorin

Die Stille der Wildnis (c) Autorin


Wir kamen gut voran und waren etwa um 17 Uhr an einer Stelle, die wir für geeignet für die Passüberquerung hielten: recht frei von Bäumen und daher gut zu laufen, so unsere Hoffnung. Im Nachhinein - nach gründlichem Studium der Karte - wäre ein Mäander weiter schlauer gewesen, vielleicht hätten wir es dann sogar geschafft.
Es war heiß wie jeden Tag, als wir den Aufstieg begannen. Wir hatten unser gesamtes Gepäck dabei, und ich einen Haufen kohlenhydratfreier Konserven (nicht leicht!) und der Hang war sehr steil. Gefühlt bin ich an diesem Abend fünf Schritte geklettert und musste dann zwei Minuten wieder zu Atem kommen. Zu meiner Verteidigung sei gesagt, dass ich ja kaum noch aß, um Insulin zu sparen. Was mir übrigens gut gelang - ich war auf ein Drittel der normalen Verbrauchsmenge zurückgegangen.
Etwa um 19 Uhr kamen wir oben an. Vor mir in erreichbarer Ferne sah ich den Berg, wo wir hinwollten: Mount Hal Weight. Wir setzten uns eine Weile und ich startete eine Zwei-Punkt-Peilung, um unsere Position zu bestimmen. Mein Freund schaute dabei kritisch auf die Berge und verglich sie mit der Karte. An dieser Stelle sei zugegeben, dass ich als Orientierungslegasteniker gerne mal mein Wunschdenken mit der Realität verwechsle. Zum Glück kompensiert mein Freund das ziemlich gut, er stellte fest: Der Mount Hal Weight war nicht, wie ich dachte, der Berg vor uns, sondern der Berg vor uns war auf der Karte der, der direkt neben uns liegen sollte und vor uns war ein riesiges Sacktal, bewachsen mit Fichten und ohne den geringsten Tropfen Wasser (laut Karte und laut Sicht). Der ersehnte Mount Hal Weight war in der Ferne nur schemenhaft zu sehen. Ich war total fertig, hatte einen Sonnenstich und wir hatten noch etwa Dreiviertel Liter Wasser dabei.
Einmal wollte ich weiter und im BearGrylls-Style einfach in die Flasche pinkeln, um unser Wasserproblem zu lösen. Ein anderes Mal bildete ich mir ein, Wasser zu hören und machte mich vorsichtig auf die Suche nach der vermeintlichen Quelle, um nichts zu finden. Wir wägten ab, hin und her... wie wahrscheinlich das wäre, im Tal Wasser zu finden. Nach längerer Beratung siegte die Vernunft und wir beschlossen, zur Hütte zurückzukehren. Erstens war die Not nicht so groß, unser Leben durch Verdursten zu riskieren, zweitens hatten wir keine Behälter dabei, um genug Wasser zu transportieren. Eine weitere Idee, dass wir uns trennen und mein Freund es alleine versuchen könnte, zur Lodge zu kommen, verwarfen wir auch bald: Wir hatten nur uns, uns zu verlieren, wäre einfach nur dumm und leichtsinnig gewesen. Alleine wäre niemand von uns zurück Hütte gelangt.
Wir paddelten an dem Abend noch eine Stunde flussaufwärts und stellten fest, dass wir durchaus vorankamen, wenn auch wesentlich mühseliger als auf der Hinfahrt. Meine Angst, die ich auf der Hinfahrt hatte, dass eine Rückkehr unmöglich sei, legte sich. Ich schätzte zu dem Zeitpunkt, dass wir mindestens zwei Tage zurück brauchen würden. Auch an diesem Abend ging ich mit Sonnenstich ins Zelt, wachte aber zum Glück am nächsten Tag schmerzfrei auf.
Tatsächlich schafften wir am folgenden Tag - Nummer vier seit dem Ausbleiben des Flugzeugs - die komplette Rückfahrt: Dreizehn Stunden paddeln stromaufwärts, kurze Pausen mit ein paar Nüssen. Meist paddelten wir gegen die Strömung, manchmal treidelten wir das Kanu an Sandbänken entlang, weil die Strömung zu stark oder der Fluss zu flach. Um 22 Uhr abends erreichten wir "unsere Hütte" und schliefen erschöpft bis 11 Uhr am folgenden Tag.
Ich brauchte an diesem Tag bis etwa 15 Uhr, um wieder einigermaßen auf die Beine zu kommen. Der Tag vorher war zu anstrengend gewesen und Tomatensauce stellt die Kräfte nicht so schnell wieder her, wie Nudelgerichte das vermögen. Mein Freund studierte, während ich halb vor mich hin döste, in allen Einzelheiten die Gebrauchsanleitung für das Funkgerät und versuchte weiter, über Funk jemanden zu erreichen. Unsere Hoffnung war, überfliegende Flugzeuge anfunken zu können. Doch unter der Woche schien leider kaum jemand hier entlang zu fliegen. Zum Funken gingen wir abwechselnd auf einen Hügel hinter der Hütte, von wo wir uns besseren Empfang versprachen.
Autorin

Eine Hütte auf der anderen Seite des Sees: Wir brachen die Tür auf. (c) Autorin


Nach weiterem Durchwühlen persönlicher Dokumente eines Hüttenbewohners namens Francesco fand ich einen Bericht über zwei Alaskaner und deren Abenteuer in der Brooks-Range Ende der 80ger Jahre. Deren Geschichte faszinierte mich; unser Abenteuer schien mir im Vergleich wie ein Sonntagsspaziergang: Zwei junge Männer wollte einmal quer durch die Brooks Range: Vom (von uns gesehen südlichen) Alatna aus zu Fuß zum Kobuk River, dann mit einem Raft auf diesem recht wilden Fluss stromabwärts nach Kobuk Village. Unterwegs verloren sie ihr Raft, bauten sich dafür ein Floß, fielen damit Stromschnellen und Wasserfälle herunter, verloren Teile ihrer Ausrüstung, verletzten sich, wurden getrennt, fanden sich wieder und wurden schließlich von einem zufällig vorbeikommenden Hubschrauber aufgesammelt.
Doch ich las den Text nicht nur aus Faszination: Ich fand auch die wichtige Information, dass Alakaket - ein Ort am Alatna, der auf unserer Übersichtskarte nur mit Namen und Flugplatz angegeben war, bewohnt war. Da unsere Vorabinfos über den Park zugegebenermaßen etwas dürftig waren, war uns die Existenz dieses Ortes entgangen. Und mit dem Kanu 150 Kilometer zum südlichen Rand unserer einzigen Karte flussabwärts zu paddeln ohne die tatsächliche Gewissheit, dort jemanden zu finden - und dann nicht zurückzukönnen, schien uns keine gute Idee. Aber hier war nun Hoffnung: Alakaket lag geschätzte acht bis neun Paddel-Tage entfernt, der Alatna war gut befahrbar, und mein Insulin reichte bei gleichbleibender Diät noch für drei Wochen oder länger. Ein bisschen kribbelte es mich in den Fingern: Das würde sicher eine aufregende Tour!
Es war Mittwoch, und am Samstag ging unser Flug heim nach Frankfurt. Wir könnten warten, bis vielleicht unsere Eltern und unsere Arbeitgeber sich wunderten, warum wir uns nicht melden und nicht zur Arbeit kämen. Ich hatte eine Angel dabei, konnte versuchen, Fisch zu fangen. Außerdem kamen am Wochenende tatsächlich täglich bis zu zwei Flugzeuge und wir hatten noch zwei Rauchsignale.

An diesem Mittwoch kehrte zwar langsam das drückende Angstgefühl im Bauch wieder zurück, die durch die körperliche Erschöpfung und die Erleichterung, wieder in der Hütte zu sein, zurückgegangen war. Dennoch schienen mir die Wahrscheinlichkeit, hier bald herauszukommen, immer höher. Und so verbrachte ich den Mittwoch und den Donnerstag morgen zwischen Karten, Funkgerät, einem Buch über Wunderheilung (in der Hütte gefunden - eine funktionierende Bauchspeicheldrüse würde viele Probleme lösen) und Tomatensauce und Erdnussbutter.
Und dann hörten wir, Donnerstag Mittag, wie schon oft in den vorigen Tagen, die entfernten Geräusche eines Flugzeugs. Doch diesmal sollte es nicht an uns vorbeifliegen. Unsere Fluggesellschaft brachte zwei neue Passagiere zum Takahula Lake. Ich frage mich noch heute, was wohl diese beiden Touris gedacht haben, als sie unsere HELP-Schilder von oben sahen.
Mein Freund und ich sahen das Flugzeug landen, wir starteten sofort ein Rauchsignal, schrien so laut wir konnten, sprangen ins Kanu und paddelten so schnell wir konnten auf das Flugzeug zu.
Autorin

Nach zwölf Tagen bringt ein Wasserflugzeug die nächsten Touristen: Was sie wohl dachten, als sie unsere HELP-Schilder gesehen haben? (c) Autorin


Der Rest der Geschichte ist schnell erzählt. Wir packten mit dem Piloten alles zusammen und verriegelten die Hütte. Man empfing uns mit einer Pizza und vielen Entschuldigungen in Bettles. Ich heulte vor Wut und erklärte deutlich, dass das wirklich eine Scheiß-Aktion war.
Jenny, die Verantwortliche, kümmerte sich wirklich sehr um mich und erklärte mir ihr Missgeschick: Es war schlicht und einfach ein Verfahrensfehler im Büro gewesen - ein Papier falsch abgelegt und so standen wir nicht auf dem Flugplan. Man zahlte uns das Geld zurück und organisierte den nächsten Flug zurück nach Fairbanks.
In Sven's Basecamp hatten sich die Angestellten schon gewundert, hatten sie uns doch bereits vor einer Woche zurückerwartet. Unsere Geschichte erregte unter den Angestellten einiges an Aufsehen.
Wir beide kehrten noch mindestens eine Woche lang in unseren Träumen auf die Hütte zurück, wachten orientierungslos morgens auf. Es dauerte eine Weile, dieses Abenteuer zu verarbeiten. Dennoch bin ich für meinen Teil nicht undankbar für das Erlebte. Ich weiß es nun zu schätzen, in "Sicherheit" zu sein. Außerdem kenne ich nun das Gefühl, in einem Abenteuer zu stecken. Für weitere Touren werde ich mir wohl ein Satellitentelefon anschaffen und nie mehr nur mit Insulinpumpe verreisen, sondern immer Spritzen und Insulinvorräte für Monate mitnehmen.

Einen Monat später ging meine Pumpe kaputt. Einfach so. Gut, dass ich mir einfach eine neue bestellen konnte.

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*Die Autorin möchte wegen ihrer Erkrankung anonym bleiben und schreibt deshalb unter Pseudonym. Ihr richtiger Name ist der Redaktion bekannt.
   



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