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Über unsere Grenzen
GESELLSCHAFT | 55. DEUTSCHER GEOGRAPHENTAG (15.10.2005)
Von Robert Laude
"Es ist schwer zu sagen, wie die Grenzen der Zukunft aussehen werden, weil es weniger geographische als kulturelle Grenzen sein werden, die mitten durch Gesellschaften gehen, oft nur auf den zweiten Blick sichtbar."

David J. (photocase.de)

Freiheit (c) David J. (photocase.de)

Mit dieser Aussage hätte der mexikanische Schriftsteller Carlos Fuentes auch auf dem 55. Deutschen Geographentag, der Anfang Oktober in Trier stattfand, auftreten können. Denn das Motto des Geographentages lautete "GrenzWerte".

Ein aktuelles Thema
Täglich werden wir Zeugen der Bedeutung von Grenzen auf ganz verschiedenen Ebenen. Hartz IV-Empfänger kennen Einkommensgrenzen, Industrie und Umweltpolitiker streiten um Grenzwerte für den CO²-Ausstoß, von einer ?Mauer in den Köpfen' ist die Rede. Israel baut eine ganz reale Mauer, in Ceuta und Melilla wird eine auf dem afrikanischen Kontinent gezogene Grenze Europas gestürmt, beim Übertritt in ein europäisches Nachbarland wird einem durch abgeschaffte Grenzkontrollen die Nicht-Existenz einer Grenze bewusst. Die umkämpfte Grenzlinie zwischen Indien und Pakistan hält auch den Folgen eines Erdbebens stand.

Brisanz erhält das Thema Grenze zusätzlich durch eine Wende, die in den Wissenschaften in den letzten Jahrzehnten vollzogen wurde und die weitreichende Auswirkungen hat. Lange Zeit wurden Grenzen und Grenzwerte als Abbild einer quasi natürlichen Ordnung angesehen. Die Natur hatte die Grenzen schon gezogen, es kam nur noch darauf an, sie zu erkennen und richtig zu interpretieren. Heute sieht man dies gemeinhin anders. Grenzen sind immer das Produkt von Menschen, die Folgen von Ordnungsbemühungen, gesellschaftlicher Entwicklung, Machtverhältnissen. Nichts hat eine natürliche Bedeutung. Wir Menschen geben den Dingen ihren Sinn. Diese Weltsicht hat weitreichende Konsequenzen. Wenn Grenzen von Menschen unter spezifischen gesellschaftlichen Bedingungen gezogen und nicht mehr aus "der" Natur abgeleitet werden können, dann braucht die Grenze eine Begründung. Dann konkurrieren unterschiedliche Entwürfe für den Grenzverlauf, zum Beispiel davon abhängig auf welcher Seite der Grenze man steht, und es kommt auf die Rechtfertigung des Entwurfes an. Das bedeutet den Verlust endgültiger Wahrheiten, macht die Dinge sehr kompliziert, trägt einen Freiheitsanspruch in sich. Den haben Grenzen übrigens auch. Denn Grenzen locken immer auch mit dem Fremden, das hinter ihnen liegt, rufen auf zum Überschreiten und Überwinden.

Um aktuelle Forschungerkenntnisse über Grenzen und Grenzwerte, Ein- und Ausgrenzung sowie Grenzüberschreitungen aus den unterschiedlichsten Fachbereichen der Geographie auszutauschen und zu diskutieren, trafen sich vom 3. bis zum 6. Oktober rund 1500 Geographinnen und Geographen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz an der Universität in Trier. Ein Schwerpunkt des Interesses in der Humangeographie liegt derzeit im dem Bereich der Politischen Geographie.

Die Grenzen Europas
Grenzen spielen wieder eine Rolle in der internationalen Politik. Zur Zeit des Kalten Krieges schien die Welt übersichtlicher geordnet. Es gab zwei Lager, die sich im Gleichgewicht hielten und jeder wusste, wer zu wem gehörte. Damit ist es vorbei. Eine neue Unübersichtlichkeit löste die bipolare Weltordnung ab. Osteuropäische Staaten lösten sich auf, neue Grenzen wurden gezogen, auch mit Waffengewalt. An Stelle des ideologischen Wettstreits zwischen Kommunismus auf der einen und Kapitalismus auf der anderen Seite, sind es heute zunehmend kulturelle Unterschiede, welche die Begründung für Grenzziehungen, für Ein- und Ausschlüsse liefern.

Das Beispiel, ob die Türkei der EU beitreten solle oder nicht, verdeutlicht die Aktualität und Brisanz dieser Frage. Hintergrund aktueller Forschungen in der Politischen Geographie zu diesem Thema ist die Erkenntnis, dass es keine klaren, objektiven, quasi naturgegebenen Grenzen Europas gibt. Grenzziehungen sind immer das Ergebnis menschlichen Handelns. Dabei spielen Grenzen eine unverzichtbare Rolle für Identitäten und unser Verstehen der Welt. Denn Grenzen definieren mit der Unterscheidung, wer zu einem gehört und wer fremd ist, auch wer wir selber sind. Es ist eine Grunderkenntnis moderner Identitätsforschng, dass sich das Eigene nur durch Abgrenzung vom Anderen konstituieren kann. Keine Identität ohne Grenzziehung. Wir sind, wer wir nicht sind. Gleichzeitig ordnen wir mit Hilfe von Grenzziehungen unsere Welt. Nur durch diese Ordnung können wir die Unübersichtlichkeit der Welt beherrschen. Grenzen dienen also auch der Orientierung und geben uns das Gefühl der Sicherheit.

Die Rolle der Politischen Geographie
Wenn Grenzen nun also nichts Natürliches sind, sondern Konsequenzen menschlichen Ordnens, dann stellt sich die Frage, wer hat die Macht, zu ordnen, die Kriterien aufzustellen und durchzusetzen? Und mit welchen Strategien werden die gewünschten Ordnungen re-naturalisiert? Denn am wirksamsten und beständigsten sind Grenzen, bei denen wir vergessen, dass sie von Menschen gezogen wurden und stattdessen annehmen, die vorzufindene Ordnung sei tatsächlich ein Produkt der Natur, deshalb auch nicht wandelbar. In dem die Politische Geographie ihre Aufgabe darin sieht, solche Konstruktionsmechanismen zu dekonstruieren, also zu zeigen, dass hinter vermeintlich natürlichen Tatsachen das Werk von Menschen steckt, kann sie einen Beitrag dazu leisten, dass die Diskussion um Grenzziehungen, um Fragen der Repräsentation und Macht transparenter wird, dass das Verstecken hinter essentialistischen und naturalisierenden Begründungen zum Zwecke der Durchsetzung eigener politischer Interessen nicht unhinterfragt bleibt.

Europa und die Türkei
Gehört die Türkei nach Europa? Diese Frage steht schon lange im Raum und die Suche nach einer Antwort wird wohl auch mit der Aufnahme von EU-Beitrittsgespächen nicht enden.
Sieht man sich die Argumentation vieler Aufnahmegegner an, so verläuft deren Argumentation stark verkürzt etwa so: Die EU ist eine Gemeinschaft, die auf den gemeinsamen europäischen christlich-demokratischen Werten beruht. Durch die kuturellen, religiösen und geistigen Traditionen bilde Europa gleichsam einen eigenen Kulturkreis. Die Türkei wird dann als ein ebenfalls eigenständiger Kulturkreis gefasst. Würde die Türkei nun Mitglied der EU werden, so drohe der Verlust der kulturellen Identität Europas. Diese Art der Argumentation geht davon aus, dass Kultur etwas isoliertes, feststehendes, räumlich fest zu lokalisierendes Etwas ist. Der Gedanke, dass Kulturen sich immerfort entwickeln, hybride Formen annehmen können, Einflüsse von "außen" aufnehmen und in sich uneinheitlich sind, darf in dieser Argumentation nicht auftauchen. Desweiteren bleibt der Kulturbegriff inhaltlich immer vage. Was genau sind denn christlich-demokratische Werte und warum sollten sie nur in bestimmten Erdregionen gültig sein können? Spricht das nicht gegen die immer beschworene Universalität "westlicher Werte"? Haben sie sich nicht auch erst in einem langen Prozess entwickeln müssen? Hier wird deutlich, warum Kultur als Unterscheidungsmerkmal so attraktiv geworden ist. Der Begriff der Kultur dient als "empty signifier". Er ist weitgehend inhaltslos. Und so können mit seiner Hilfe Abgrenzungen da vorgenommen werden, wo sie gebraucht werden.

Eine besondere Bedeutung für diese Grenzziehungen kommt dabei dem Raum zu. Durch eine "purification of space" wird das Bild einer z.B. kulturell homogenen Gruppe in einem abgegrenzten Raum vermittelt. Nationalstaaten stellen dabei die wirkungsmächtigsten Homogenisierungen von Raum dar. So lassen sich dann "den" Deutschen oder "den" Türken besondere Merkmale zuweisen, die für vermeintlich alle gelten und eine stabile, gleichsam zeitlose, Wesenhaftigkeit haben.

So hätte mit Erich Röpert auch ein Europa-Rechtler auf dem Geographentag sprechen können. Seine Worte aus dem Aufsatz "Europas Aufgabe" in den Blättern für deutsche und internationale Politik verdeutlichen die Anschlussfähigkeit geographischer Forschung und die Notwendigkeit interdisziplinärer Zusammenarbeit: "Bestimmt man den Raum Europa nach einer Liste geographischer und historischer Merkmale, wird damit immer schon ein bestimmtes Gebiet assoziiert. Die Auswahl der Kriterien dient der Rechtfertigung der Grenzen. Das Festsetzen endgültiger Grenzen beweist ein statisches Bild von Geographie und Geschichte. Nur durch seine Dynamik ist der europäische Raum angemessen zu beschreiben, aber nicht als räumlicher Status quo. Entscheidend ist der Prozess des Werdens, nicht wie es immer war."


Literaturtipps

Paul Reuber, Anke Strüver und Günter Wolkersdorfer (Hrsg.): Politische
Geographien Europas - Annäherungen an ein umstrittenes Konstrukt. Lit-Verlag
Münster

Ute Wardenga (Hrsg.): Themenheft "Grenz-Räume - RaumGrenzen" (Berichte zur
deutschen Landeskunde, Heft 2/3 2005)

Weiterführende Links
http://www.geographentag-trier.de/55. Deutscher Geographentag in Trier
   







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